Kokon dumpfer Gefühle
Eine retrograde Amnesie, bei der man sich nicht in der Lage fühlt, sich an bestimmte Ereignisse zu erinnern, hatte er nicht. Aber nach dem Schlaganfall litt er unter der „Aphasie“. Ein Schreckenswort- er konnte nicht mehr „sprechen“.
Die Krankenschwester konnte anpacken und litt nicht unter einem Helfersyndrom. Sie bemühte sich, ihm in den Rollstuhl zu helfen. Dann schob sie ihn nach draußen auf den Flur. Er dankte ihr mit einer Kopfbewegung. Aber die Pflegerin war schon mit anderen Dingen beschäftigt und stieg in den Lastenaufzug.
Er hatte sich mit dem Rollstuhl eine einsame Ecke ausgesucht. Abseits vom Stationsgeschehen in einem fensterlosen Flur. Nun konnte er ungestört weinen. Sein Rücken war so gebeugt, dass es einen jammerte. Sein Blick stierte zur Wand. Und wenn er überhaupt etwas sah, dann waren es die Tränen.
Schlaganfall! – das gab es nur für andere.
Das war wie ein Film, in dem der Darsteller gequält in die Kamera blickt.
Oder noch besser: Wie ein Alptraum, dessen Spannung zwischen Qual und Erleichterung im Dämmern verschwindet.
Ja, er liebte diese Ordnung des Alltages. Sein Privatleben und seine Arbeit. Er liebte die Regelmässigkeit, die es möglich macht zu leben.
Kurz, sein Leben hatte sich für derartige Gedanken, z. B. eine schwere Krankheit, keine Zeit gelassen – aber nun war es ganz anders gekommen!
Sein Organismus hatte sich nun auf eine physiologische Abwehr gegen ein Übermass an Wörtern und “Lärm“ eingestellt.
Er hatte sich eingewoben in eine Art von Kokon dumpfer Gefühle, die ihn selbst betrafen.
Nur entpuppen konnte er sich nicht, weil es ihm an „Sprache“ fehlte.
Aber letztlich war nur das eigene „Ich“ wichtig, denn das ist das Einzige, was uns anvertraut wurde.
So eine Art Schicksalsergebenheit kann man auch als Philosophie „verkaufen“. Mit so einer Behinderung kann man leben. Man darf nur nicht verbittert sein...
Das sagt sich so leicht, wenn du „sprechen“ kannst. Mit halboffenem Mund, sein Gesicht mit Ungläubigkeit gepaart, lag seine Miene zwischen Staunen und Ironie. Nur, dass lag an seiner mimischen Gesichtslähmung.
Kurz, sein Gesicht war wie von einem degenerierten Menschen.
Aber in seinem rechten Grosszeh, ganz peripher, spürte er manchmal in dumpfes Kribbeln - wie Ameisen.
Und wenn er schon vom „Kokon dumpfer Gefühle“ sprach - dann kamen „die Ameisen“ nicht allein.
Autor:Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg |
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