Die 68-iger Generation
Wir waren als Kinder der 50-iger Jahre nie so behütet, so gehätschelt, gegen jeden Schaden so versichert, wie die heutigen KInder, doch wir besaßen die Straßen, Wege, Wiesen, Bäche und Hinterhöfe zum Spielen. Ich erinnere mich noch an meinen esten Tretroller, der groß in Mode kam, als ich in die Schule kam. Ich konnte mit ihm gleiten, wie die Kinder heute mit ihren Skate- und Kickboards. Das waren robuste und schlichte Dinger. Keine hochtechnisierten Sportgeräte. Wir waren stolz wie Oskar darauf. Mein Freund Ewald und ich spielten mit unseren jüngeren Geschwistern "Vater-Muter-Kind" im Bauerngarten neben dem Hühnerstall. Einen Sandkasten hatten wir nicht. Nur eine Baumschaukel, die Opa uns in den alten Kastanienbaum vorm Haus gehängt hatte. Wir bauten aus alten Ästen Buden im Wald und hackten das Holz fürs Lagerfeuer, ohne uns zu verletzen.
Mit dem für uns Kinder viel zu großen, schwarzen Familien-Fahrrad kurvten wir durchs Dorf, wenn es gerade nicht von unseren Eltern anderweitig genutzt wurde. Damit waren wir mobil. Ewald saß auf dem Gepäckträger und bestimmte mit seinen Kommandos die Richtung. "Rechts rum. Jetzt links rein. Stopp. Wir sind da. Los alle absteigen. Ich zuerst. Sonst kippen wir alle um!" Wir waren ein wunderbar eingespieltes Team! Meistens jedenfalls!
Mein knapper Kommentar dazu: "Passt. Dann spring runter. Ich schaff das schon."
Meine kleine Schwester saß frohlockend auf dem abgewetzten Ledersattel. Sie krallte sich an mir fest, die ich auf den Pedalen stehend, wild trampelnd und lenkend versuchte, unfallfrei ans Ziel zu kommen. Es grenzte so manches Mal an Akrobatik, dieses Gefährt mit seiner kostbaren Fracht im Gleichgewicht zu halten und heil durchs Dorf zu schaukeln. Nicht immer ist es gut gegangen. So manches aufgeschürfte Knie zeugte davon. "Komm ich puste mal. Wenn Du Oma bist, sieht keiner mehr was davon!" tröstete mich eine Nachbarin, die unser Maleur beobachtet hatte. Pflaster aufs blutende Knie und weiter gings. Das Wichtigste war, dass keine Macke am Fahrrad zu sehen war. Denn mein Vater nutzte es tagtäglich, um zur Arbeit zu fahren.
Unsere Eltern trauten uns eine Menge zu. Sie hatten eigentlich kaum Zeit, uns ständig im Auge zu behalten. Wir streunten um die Häuser und mussten Zuhause sein, wenn die Straßenlampen abends angingen...
Aus dem Gedächtnis tauchen Erinnerungen auf, als mir beim Aufräumen des Dachbodens ein Schuhkarton mit Fotos und meine alte Schildkröt-Puppe "Heidi" in die Hand fallen. Sorgfältig verpackt in Omas weißem Damast-Kopfkissenbezug. Mit einer taubenblauen Samtschleife drumherum, schlummert sie vergessen in einem alten Schrank. Sicher, wie "in Abrahams Schoß", vor Staub geschützt. Hab ich sie seinerzeit so "eingemottet?" Ich kann mich nicht erinnern. Die schwarzen Lackschuhe, ihre weißen Söckchen und ihre handgenähte Rüschen-Schürze über dem dunkelblauen Kleid trägt sie noch. Etwas knautschig zwar, aber unvergessen. Meine Mutter hatte die Puppenkleidung zu Weihnachten genäht. Jedes Jahr kam ein neues Teil hinzu. Ich erinnere mich genau: Die Puppe war für mich wie eine Schwester, in jeder Hinsicht. Ich redete mit ihr, erzählte ihr meine Geheimnisse, Sorgen und Nöte. Ich malte mir aus, dass sie mir antwortete. Kindliche Phantasie beflügelt. Mir klopft das Herz, als ich sie aus ihrer "Verpuppung" herausschäle. Ein Zauber meiner Kindheit erwacht. Heidi. Wie habe ich sie geliebt, gehütet und gehätschelt. Sie war mein Ein und Alles. Meine Patentante hatte sie mir geschenkt.
Vergilbt ist das 50 Jahre alte Zackenfoto. Ewald und ich, Hand in Hand stehen wir mit kratzigen, kunterbunten Strickstrümpfen und Pluderhose vor der weiß lackierten Wohnzimmertür. Längst vergangene Zeiten erwachen. Für einen Moment versinke ich in eine andere Zeit. Wo mein Sandkasten-Freund Ewald wohl heute lebt? Wie es ihm geht?
Lange Jahre habe ich nichts mehr von ihm gehört!
Autor:Marita Gerwin aus Arnsberg |
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