Der erste Mensch, mit dem ich heute einige Worte wechsle...

Der Terminkalender bleibt leer.. | Foto: Martin Polenz
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Es ist Kaffeezeit. Die Sonne scheint. Ich bin in Heidelberg zu Gast. Die Innenstadt pulsiert. Geschäftiges Treiben in der Fußgängerzone. Die Menschen bummeln, schlendern, scherzen, eilen, rennen aneinander vorbei. Pralle Einkaufstüten in den Händen, iPhone am Ohr, Brötchen auf die Faust. „Coffee to go“, im Pappbecher.

Ich entdecke eine nette Konditorei. „Selbstbedienung“, lese ich. Na ja, schaun wir mal, welche Köstlichkeiten die gut sortierte Kuchentheke bereithält.

Mit einer Gaumenfreude komme ich zurück und suche einen Platz im Freien. Alle Tische sind besetzt, mit ein oder zwei Personen. Die Gäste sitzen schweigend nebeneinander und beobachten die Straßenszene.

„Darf ich mich zu Ihnen setzten?“ frage ich eine alte Dame, die ein „Sonnenplätzchen“ vor dem Café ergattert hat. Sie schaut etwas ungläubig zu mir hoch und scheint dabei um Worte zu ringen. Ich bin etwas irritiert. „Sie möchte allein sein“, schießt es mir durch den Kopf. Ich will gerade weiter gehen, um sie nicht zu stören, da zupft sie mich am Ärmel. Ich sehe, wie eine Träne ihr über die Wange kullert. Etwas verschämt wischt sie diese mit ihrem Handrücken schnell weg und antwortet:

“Sie schickt der Himmel! Ich sitze hier nun schon eine halbe Stunde und halte den Platz fest. Wenn ich aufstehe, bin ich sofort mei-nen Tisch los. Ich freu mich, wenn Sie mir Gesellschaft leisten. Ich gehe rasch rein und hole mir Kuchen und Kaffee. Denn hier kommt niemand und fragt dich, was du gerne essen oder trinken möchtest. Da verhungerst und verdurstest Du eher“, lächelt sie.

„Danke, das mache ich gern. Gehen Sie ruhig“, beruhige ich sie und nehme Platz. Mit einem üppigen Stück Schwarzwälder-kirschtorte und einem Kännchen Kaffee kommt sie eilig zurück an „unseren“ Tisch. „Guten Appetit. Lassen Sie es sich schmecken!“ wünsche ich ihr. „Das ist nett von Ihnen. Wissen Sie eigentlich, dass Sie der erste Mensch sind, mit dem ich heute einige Worte wechsle?“ verrät sie mir.

„Manchmal muss ich nach Worten suchen, weil ich mich so selten unterhalte. Seit dem Tod meines Mannes lebe ich allein. Meine Freunde sind inzwischen tot oder ins Seniorenheim gezogen. Die Nachbarschaft gibt es auch nicht mehr.“ Sie schaut mich traurig an.

„Irgendwie komme ich mir vor wie ein überreifer Apfel, der noch am Baum hängt, während alle anderen schon herunter gepurzelt sind“, erzählt sie mir. Eine Metapher, die mich zutiefst berührt. Ohne Umschweife schüttelt sie mir ihr Herz aus. „Ach wissen Sie, meine Kinder und Enkel wohnen in Berlin. Manchmal rufen sie mich an. Aber besuchen? Selten eigentlich. Sie führen ihr eigenes Leben. Und nach Berlin ziehen möchte ich auch nicht. Was soll ich da? Ich bin hier in meiner Heimatstadt Heidelberg zu Hause.“

Jetzt verschlägt es mir die Sprache. Plötzlich ringe ich nach Worten. Ich spüre einen Kloss im Hals. „Das Fernsehen ist für mich an manchen Tagen das einzige Fenster zur Außenwelt. Aber die sprechen ja nicht mit mir“, fährt sie fort. „Ganz besonders schlimm ist es bei tagelangem Schmuddelwetter. Dann komme ich nicht vor die Tür. Manchmal spüre ich mich gar nicht mehr“ erzählt sie. Ihre Gedanken scheinen wenig verloren zu gehen. Ihr Blick ist einzig und allein gerichtet auf das Stück Sahnetorte.

„Heidelberg ist ihre Heimatstadt? Dann kennen Sie sich ja gut aus, oder? Können Sie mir einige Tipps geben, was ich mir unbedingt anschauen sollte?“ frage ich die Expertin, um das Thema ein wenig in eine andere Richtung zu lenken.

Plötzlich strahlt sie und bietet mir spontan an: „Darf ich Ihnen meine Lieblingsplätze am Neckar zeigen?“ „Na, klar, gern. Worauf warten wir noch? Auf geht’s“, ermuntere ich sie. Ich erlebe eine wieselflinke, sympathische Frau, die für mich eine individuelle Stadtführung organisiert. Wir schleichen uns durch Gassen, Hinterhöfe, idyllische Orte, die ich sicherlich niemals allein entdeckt hätte. Die Heidelbergerin erzählt mir Anekdoten und Kuriositäten ihrer Stadt. Sie schwärmt und redet wie ein Wasserfall. Die Worte purzeln nur so aus ihrem Mund heraus. Dabei strahlt sie eine Lebendigkeit, Zufriedenheit und Selbstsicherheit aus, die mich zutiefst beeindruckt. Vergessen ist die Trauer und Einsamkeit, von der sie mir bei unserer ersten Begegnung im Café erzählt hat. Nach einer Stunde trennen sich unsere Wege wieder. Zurück bleibt ein Glücksgefühl. Auf beiden Seiten.

Meine Begleiterin ergreift zum Abschied meine Hand und schaut mir dabei tief in die Augen. Ihre letzten Worte werde ich nicht vergessen. „Ich hoffe, dass Ihnen meine Heimatstadt Heidelberg gefallen hat. Für mich war es ein wunderschöner Nachmittag. Heute fliege ich nach Hause. Und morgen ist ein neuer Tag...“

Quelle: GenerationenMagazin Sicht Nr.56/ Juni 2013 - Seite 31/32

http://www.lokalkompass.de/arnsberg/kultur/aktuelles-generationenmagazin-sicht-bereits-online-d301562.html

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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