Was soll nur werden? Ich schaffs nicht mehr!
Familienleben 3.0.
In Annas Familienleben begann ein neues Kapitel durch einen Anruf ihrer 84-jährigen Mutter Ida. “Das Einkaufen, die Bankgeschäfte – der ganze Alltag ist für mich so schwierig geworden. Ich fühle mich so alt. Ich vergesse immer mehr. Mein Arzt sagt: ‚Das ist halt das Alter, da kann man nichts machen’. Was soll ich nur tun? Ich schaff das alles nicht mehr allein. Ich finde mich nicht mehr zurecht in meiner eigenen Wohnung. Ich habe beschlossen, jetzt doch in ein Seniorenheim umzuziehen. Oder was meinst du, Anna?“
Sie klang am Telefon untröstlich. Vor nichts hatte Mutter Ida so viel Angst, wie vor einer Abhängigkeit und Unselbständigkeit. Und nun das! „Ach Mama, so schlimm wird es doch nun auch nicht sein. Weißt du was? Schlaf erst einmal eine Nacht drüber und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, munterte Anna ihre Mutter auf, obwohl sie gleichzeitig ein mulmiges Gefühl beschlich.
Anna ist Mitte 50. Voll berufstätig mit Dienstzeiten, die nicht gerade familienfreundlich sind. Trotzdem liebt sie ihren Job. Anna gehört zur sog. "Sandwich-Generation", die "breite Schultern" braucht, um den Alltag zu meistern.
Sie fühlt sich gelegentlich zerrissen zwischen den verschiedenen Erwartungen von Außen. Einerseits hat sie immer ein offenes Ohr für ihre allein erziehende erwachsene Tochter Lena und den Enkel Matthis, der mitten in der Pubertät seine Gefühlsschwankungen auslebt. Gut, dass in solchen Momenten Oma Anna in der Nähe wohnt, die schon so manches Mal für einen humorvollen Ausgleich gesorgt hat. Andererseits fühlt sich Anna verantwortlich für ihre hochbetagte Mutter Ida. Dabei gleichzeitig selbst nicht zu kurz zu kommen, ist gelegentlich ein Balanceakt. Nicht immer gelingt ihr dieses Kunststück!
In dieser Nacht konnte Anna nicht schlafen. „Wir haben in den letzten Jahren alles getan, um Mama ein schönes Leben Zuhause zu ermöglichen. … In den vergangenen vier Jahren hat das auch gut funktioniert. Obwohl wir 100 Kilometer entfernt leben, wird sie täglich von Freunden und Helfern besucht, sogar der Nachbarshund kommt zu Besuch. Die Haustechnik ermöglicht ihr ein weitgehend sicheres und selbstbestimmtes Wohnen. Und ich telefoniere jeden Tag zwei- oder dreimal mit ihr, besuche sie an jedem zweiten Wochenende. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, wenn es Mama wirklich schlechter gehen sollte. Ich bin an der Grenze“.
Sie hatten schon häufiger über einen möglichen Umzug in ein Senioren-Wohnheim gesprochen. „Ich will Dir und Deiner Familie nicht zur Last fallen, Anna. Ich möchte nicht zu Dir ziehen. Ich will meine Selbstständigkeit soweit es geht bewahren und damit die Kontrolle über mein eigenes Leben!“ betonte sie dabei immer wieder.
“Von Euch wie ein Baby im Pflegefall gefüttert und gewickelt zu werden, dass ist für mich schwer vorstellbar. Das wünsche ich mir eigentlich nicht“. „Ach Mama, wenn der Ernstfall eintritt, dann finden wir einen Weg. Wir haben bisher alles irgendwie geregelt. Das schaffen wir schon. Und eins ist sicher: egal was die Zukunft bringt, Du bist und bleibst meine Mutter. Wir kümmern uns! Mach Dir keine Sorgen!“, tröstete Anna sie. Obwohl ihr diese neue Verantwortungsrolle nun doch recht fremd erscheint.
Anna schaltete das Licht an. Drei Uhr nachts. Die Gedanken ließen sich davon nicht vertreiben. Nun war er also da, der Ernstfall. Wie soll sie nur damit umgehen?
„Mir ist klar, dass ich mit dieser Aufgabe nicht alleine bin. Mein Mann Klaus war mir in der Vergangenheit eine große Hilfe und hat mich und Mama Ida sehr unterstützt. Er wird auch jetzt da sein. Wir müssen trotzdem dafür Sorge tragen, dass wir uns auch als Paar umeinander kümmern. Und um unsere Tochter Lena und um unseren Enkel Matthis. Wir müssen das alles irgendwie unter einen Hut kriegen", versichert sie sich selbst. Ihr wird schagartig klar "Jetzt ist es eingetreten, das viel beschworene Familienleben 3.0." Dabei kullert ihr eine Träne über die Wange.
Am nächsten Morgen wählte Anna wie immer die Nummer ihrer Mutter...
Autor:Marita Gerwin aus Arnsberg |
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