"Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt". Leipzig 1989

Rainer Müller begleitet uns zu den historischen  Stätten der friedlichen Revolution 1989 in Leipzig | Foto: Marita Gerwin
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Leipzig. Eine wunderschöne, moderne und pulsierende Stadt. Jung, dynamisch, aufstrebend. Ein touristisches Ziel für viele Menschen aus aller Welt. Wir denken gleich an Auerbachskeller, an das Barfußgässchen, an die Thomaner-Sängerknaben, an die "Blechbüchse" oder an das jahrhunderte alte, legendäre Restaurant "Zum Coffe-Baum", indem schon Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang Goethe über Gott und die Welt philosophierten.

Leipzig, die zweitälteste Universitätsstadt. Mit einer bewegten Vergangenheit, die auch unsere deutsche Wiedervereinigung maßgeblich mit eingeleitet hat.

http://www.mdr.de/damals/09oktober89/artikel120288.html

Bei unserem Besuch in Leipzig treffen wir Rainer Müller an der Nikolaikirche. Er ist heute Mitte 40. Als Historiker und Zeitzeuge der bewegenden deutsch-deutschen Geschichte, die 1989 mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig ihren Höhepunkt fand, begeleitet er uns zu den Stätten der friedlichen Revolution. Wir hören seine persönliche Geschichte als 23jähriger, die symbolisch für viele junge Menschen war, die in den Zeiten vor der Wende zum Widerstand in der ehemaligen DDR gehörten. Heute, 23 Jahre später, steht er interessierten Schülern, Studenten und Gästen der Stadt als Zeitzeuge Rede und Antwort. Wir nutzen die Chance und begleiten ihn durch sein Leipzig.

Rainer Müller engagiert sich heute im Auftrag der Stiftung "Friedliche Revolution. Wir gehen weiter!". Wir erfahren Dinge, die uns bisher in dieser Offenheit nicht bekannt waren. Woher auch?

Hier sein persönlicher Rückblick in seine Biographie in den Zeiten vor der Wende. Rainer Müller durfte als Jugendlicher in der DDR trotz seiner sehr guten schulischen Leistungen kein Abitur ablegen, weil er als junger Christ der obligaten Jugendweihe ferngeblieben und wegen seines Kleidungs-Aufnähers "Schwerter zu Pflugscharen" mit Repressionsorganen der SED-Diktatur in Konflikt geraten war. Er absolvierte eine Maurerlehre, fand wegen seiner ablehnenden Haltung zum SED-Staat jedoch nur in kirchlichen Einrichtungen eine Anstellung als Betriebshandwerker. Wegen seiner Wehrpflichtverweigerung bei der NVA erhielt er keine Studienzulassung, obwohl er 1986 die Sonderreifeprüfung für Theologiestudenten an der Leipziger Karl-Marx-Universität bestanden hatte. Im folgenden Jahr begann er am Theologischen Seminar Leipzig zu studieren. Wegen seiner Kritik, die er im Rahmen der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche am SED-freundlichen Kirchenkurs übte, wurde er 1988 von dieser kirchlichen Einrichtung exmatrikuliert.

Seit 1985 hatte Müller sein oppositionelles Engagement ausgeweitet. Er gab eine Samisdat-Zeitschrift heraus, engagierte sich in der Initiative Frieden und Menschenrechte, im Arbeitskreis Solidarische Kirche und in der Umweltgruppe Borna. Von 1987 an arbeitete er in der Arbeitsgruppe Menschenrechte um Pfarrer Christoph Wonneberger mit, war einer der Sprecher der unabhängigen Oppositionsgruppe Arbeitskreis Gerechtigkeit und gestaltete die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche mit.

Nachdem es im Januar 1988 in Ost-Berlin zu Verhaftungen Oppositioneller im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration gekommen war, gründete er den Sonnabendskreis, der sich um die Vernetzung der Oppositionsgruppen in der DDR bemühte und aus dem die überregionale Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR entstand.
Im Vorfeld der Leipziger Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1989 wurde Rainer Müller wegen angeblich geplanter oppositioneller Aktivitäten verhaftet. Mehrfach wurde er bei Demonstrationen festgenommen, mit Aufenthaltsverboten oder Geldstrafen belegt. Die Mariannenstraße 46 im zerfallenden Altbauviertel des Leipziger Ostens, die er gemeinsam mit anderen Oppositionellen bewohnte, wurde rund um die Uhr wahrnehmbar observiert.

Als im Sommer 1988 die Kirchenleitung beschloss, einige oppositionelle Gruppen von der Gestaltung der Friedensgebete auszuschließen, verteilte Rainer Müller Tücher mit der Aufschrift „Redeverbot“, die sich einige vor den Mund banden. Zusammen mit anderen Mitgliedern des Arbeitskreises Gerechtigkeit machten sie künftig den Vorplatz der Nikolaikirche zu ihrem Podium, verlasen Informationen und kündigten Veranstaltungen an. Damit hatte der Protest den kirchlichen Schutzraum verlassen.

Zum Abschluss des Sächsischen Kirchentags im Juli 1989 fertigte Müller ein Transparent an, auf dem in chinesischen Schriftzeichen "Demokratie" geschrieben stand, und führte mit anderen Oppositionellen einen Demonstrationszug in die Leipziger Innenstadt an: gegen das von der SED begrüßte Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und für demokratische Veränderungen in der DDR.

Nachdem es bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig im September sowie am 7. und 8. Oktober 1989 auch in anderen DDR-Städten zu brutalen Übergriffen auf festgenommene Demonstranten gekommen war, verfasste Rainer Müller zusammen mit anderen einen Aufruf gegen Gewalt: „Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!“, den sie auf etwa 20.000 Flugblättern in Leipzig verteilten. Es war der Vorabend der entscheidenden Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, die mit rund 70.000 Teilnehmern erstmals friedlich verlief.

Nach der Wende studierte er Geschichte und ist heute als Historiker in Leipzig tätig. 2 1/2 Stunden laufen wir mit Rainer Müller durch sein Leipzig. Wir beenden unseren historschen Spaziergang in der sog. "Runden Ecke", in der ehemaligen Beziksverwaltung für Staatsicherheit, die während der Montagsdemonstration 1989 von Leipziger Bürgern besetzt wurde.

"Die seinerzeit von uns gefürchtete "Runde Ecke" ist heute ein Museum, dass uns bei allem Blick in die Zukunft mahnt, die Vergangenheit nicht auszublenden. Bitte betrachtet diese Epoche realistisch, verklärt sie nicht. Diese Zeit gehört zu unserer deutschen Geschichte, wie die Luft zum Atmen", mahnt uns Rainer Müller zum Abschluss. Er ist ein besonnener Mensch, mit bewegter Vergangenheit, ein lebendes Geschichtsbuch, ein Zeitzeuge. Ich werde ihn sicher niemals wieder vergessen. Er hat uns geradeaus und unverblühmt seine authetische Lebensgeschichte erzählt, eingebunden in historische Eckdaten der Wendezeit.

Nachdenklich verlassen wir die "Runde Ecke" und stürzen uns ins moderne Leipzig. Genießen, bummeln, schlendern, shoppen, schlemmen- alles was zu einer Städtereise dazugehört. Leipzig ist eine wunderschöne Stadt mit einem ganz besonderen Flair. Wir genießen sie!

Quelle: Wikipedia und persönliche Schilderungen des Zeitzeugen Rainer Müller, Historiker und Mitarbeiter in der Stifung "Friedliche Revolutin" in Leipzig.

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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