„Sieh einmal, hier steht er, pfui der Struwwelpeter..."
An den Händen beiden
Ließ er sich nicht schneiden
Seine Nägel fast ein Jahr;
Kämmen ließ er nicht sein Haar.
Pfui ! Ruft da ein jeder:
Garst'ger Struwwelpeter!
"Pass auf, wo Du hinläufst, sonst geht es Dir wie dem „Hans guck in die Luft“ und Du liegst auf der Nase!“ Wie oft habe ich als Kind diese Ermahnung gehört. Mein Opa rezitierte gleich hinterher: „Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken Schwalben schaut er aufwärts allenthalben. Vor die Füße dicht, ja da sah der Bursche nicht.“
Erinnern Sie sich auch an die Texte der neun Geschichten im Struwwelpeter-Buch? Vor 200 Jahren wurde Heinrich Hoffmann geboren. Er war es, der uns unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb den Struwwelpeter beschert hat. Das vielleicht berühmteste und umstrittenste Kinderbuch der Welt. Verhöhnt, verhasst, geliebt und gefürchtet zugleich. Generationen haben sich an diesem Buch gerieben und die Köpfe heiß geredet.
Gemalt 1844 als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl, hat der Arzt Heinrich Hoffmann auf Drängen seiner Freunde in Frankfurt diese selbstgebundenen Geschichten veröffentlicht. In einer Woche schon, hatte er 1500 Exemplare verkauft. In den nächsten 36 Jahren wurden 100 Auflagen in den verschiedensten Sprachen und Kulturen gedruckt.
Wie oft habe ich als Kind an diese Gruselgeschichten gedacht, wenn ich mir ausmalte, ich würde wie der fliegende Robert vom Wind erfasst und in die Wolken hinausgetragen. Da konnte einem schon Angst und Bange werden, wenn im sauerländischen Hirschberg der Sturm blies und ich mich mit meinem kleinen Schirm dagegenstemmte. Und wenn mir dann auch noch die Mütze vom Kopf gefegt wurde, ja dann...Mir schwante Böses. Ich kann mich daran erinnern, als wäre es gestern.
Und erst der Konrad, der so gerne an seinem Daumen lutschte. Ich weiß noch, wie eines Abends meine drei Jahre jüngere Schwester Michaele an meinem Daumen lutschen wollte, um ihren eigenen Daumen vor dem Schneider mit der Schere in Sicherheit zu bringen. Diese überdimensional große Schere, die schnipp-schnapp, ruckzuck damit fertig war, und der arme Konrad ohne Daumen da stand. Furchtbar, der Gedanke allein. Ihre vier kleinen Finger legte Michaele schützend um ihren Daumen, wenn sie sich das Buch anschaute - immer und immer wieder - Abend für Abend- bevor sie seelenruhig einschlief. Ich denke, Ihrer kleinen, sensiblen Seele hat es nicht geschadet. Ganz im Gegenteil.
Der Gruseleffekt hat so manches Mal bei uns bewirkt, dass der Nachahmungstrieb geweckt wurde. Getreu dem Motto: „Wollen wir doch mal selbst sehen, ob es lichterloh brennt, wenn wir draußen mit Feuer spielen“. Auch wenn das schlechte Gewissen uns plagte und wir genau wussten, was mit dem armen Paulinchen passiert ist, als es allein zu Hause war.
Respekt hat uns der Struwwelpeter schon eingeflößt, aber Angst? Eigentlich nicht! Wir konnten schon sehr genau unterscheiden, was Dichtung und Wahrheit ist. Einmal nicht gehorchen und schon fließt Blut? Einmal neugierig sein, und schon stehst Du lichterloh in Flammen? Oder Du guckst verträumt in die Luft und schon treibst Du kopfüber im kalten Wasser dahin oder saust als fliegender Robert gen Himmel? Das konnte doch gar nicht sein! Aber schaurig schön war es doch. Irgendwie kribbelte es im Bauch, Spannung pur – Gänsehaut! Wir wollten als Kinder diese Märchen und Geschichten hören, auch wenn sie gruselig waren.
Ich frage mich heute, was die Faszination dieses Buches für uns ausgemacht hat? Waren es die Geschichten, in die wir uns hineinversetzen konnten? Der Zappelphilip am Tisch, der kam uns schon bekannt vor- plagte unser Eltern doch jeden Mittag diese Zappelei am Tisch. Oder waren es die lebensnahen Illustrationen wie beispielsweise der Nikolaus die bösen Buben ins Tintenfass steckte? Oder war es die gesamte Dramatik der Geschichten? Kino im Kopf- jedenfalls, das ist sicher.
Gut dass unsere Eltern nicht alles hinterfragt und pädagogisch durchdacht haben, sonst hätten Sie uns den Struwwelpeter sicherlich vorenthalten. Das wäre schade, wir wären um manche Erinnerung ärmer. Ich denke, dass die Kinder in der heutigen Zeit viel dramatischere Dinge im Fernsehen, Kino und im Internet erleben, sehen und verarbeiten müssen.
Was meinen Sie dazu? Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antworten.
Autor:Marita Gerwin aus Arnsberg |
6 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.