RITUALE

Ich bin immer wieder überrascht, wie viel „Tam-Tam“ der Mensch um seinen Geburtstag macht. Denn schon Karl Kraus wusste:
"Jedes Kalb hat Geburtstag."
Aber vermutlich braucht der Mensch seine Rituale. Und um wie viel ärmer wäre der Mensch, wenn er diese „Wiederholungen der Wiederholung“ nicht hätte? Da fiele nicht nur Weihnachten aus.
Und so zerlegen diese immer wiederkehrenden Feste das Jahr in gut „verdauliche“ Portionen. Denn was wäre ein Fest ohne „Speis und Trank“?
Und schon wird das Jahr bis zum nächsten Fest überschaubar.
Aber die Zeit, die sich bekanntlich nicht aufhalten lässt, gönnt sich schon beim nächsten feierlichen Anlass wieder eine Pause. Und diese Pause wird als Datums im Kalender fixiert. So, als ließe sich die Zeit in ihrer Unendlichkeit auf das menschliche Maß ein, um das „Endliche“ im „Unendlichen“ messbar werden zu lassen.
Diese Art mit der Zeit umzugehen, kann vermutlich trösten.
Bei meinem letzten Geburtstag allerdings träumte ich von einer phosphorisierenden Meßskala, die mich durch ihre giftigen Farben nachhaltig irritierte.
Erst als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, stellte ich fest, dass diese Skala, die die Spanne eines Lebens angab, so leicht überschaubar war wie bei einem Spielautomaten. Aber wie Sie wissen, steht schon beim „einarmigen Banditen“ der Sieger und Besiegte schnell fest.
Und trotzdem fragte ich mich im Traum:
Wen hatte ich schon alles überlebt?
Und somit war klar, frühvollendet verstorben war ich nicht.
Jetzt kommen Sie mir aber nicht mit diesem abgedroschenen Spruch:
"Nein, ich habe mein Leben noch nicht gelebt!"
Und somit bin ich auch weiterhin entschlossen, jeden weiteren Menschen zu "überleben", als wäre es mein eigener Verdienst.
Gut, sprachlich bin ich aus der Zeit gefallen. Grammatikalisch meine ich. Ich träume nicht mehr.
Aus diesem Grunde verzichte ich auch auf meinen Geburtstag. Ich unterwerfe mich nicht diesem Ritual, nur um gute Wünsche entgegenzunehmen, in denen etwas von „Gesundheit“ zu hören ist, während die Worte wie vergiftete Pralinen schmecken.
Also, geben Sie es doch endlich zu:
Auch Sie wollen mich nur überleben!

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.