"Es ist ein Wunder..."
„Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe…, “ lächelte Herr T., der gelegentlich etwas geschwollen daher sprach. “…und deswegen horche ich jeden Tag in mich hinein. Ich habe gelernt auf die Gezeiten meiner physiologischen Strömungen zu achten. Aber je älter ich werde, desto wahrscheinlicher wird es, dass auch ich sterbe. Das wird Sie kaum überraschen?!“
„Wer will schon allein auf der Welt überleben?“ sagte ich und bot Herrn T. einen Kaffee an.
„Danke…, “ sagte Herr T. und lachte, „…noch bin ich mit meinem Leben vor dem Tod nicht überfordert, wissen Sie. Und im Übrigen gehöre ich nicht zu den Menschen, die glauben ihr Leben sei vorbei, nur weil die Kinder erwachsen werden. Dafür bin ich viel zu neugierig. Denn noch heute erwarte ich hinter jeder Tür die Überraschung, die mein Leben verändern könnte. Vielleicht kann ich deshalb auch noch weinen und lachen.“
„…und das gleichzeitig, “ sagte ich „…das kann nicht jeder.“
„Vielleicht liegt es daran, “ sagte Herr T., als mache er sich Gedanken über diesen Widerspruch, „ dass ich zwei Väter hatte…“
„Na ja, “ antwortete ich sachlich, „ an irgendetwas wird es schon liegen…“
„Nur, durch unsere verworrenen Familienverhältnisse versäumte man mich zu taufen - behandeln Sie überhaupt Heiden?“ grinste mich Herr T. von der Seite her an.
„Keine Angst…,“ sagte ich. „…ich will Sie nicht bekehren.“
„Schade…,“ lächelte Herr T. verhalten.
„ …aber im Ernst…, “ sagte ich und spielte mit meinem Kuli, „… können Sie sich vorstellen, dass ich bei meinem Körpergewicht in den Himmel fahre, wenn ich sterbe?“
„Das soll ja schon passiert sein…, “ lächelte Herr T. „… aber selbst, wenn ich mir heute eine Religion aussuchen müsste, wäre ich verwirrt.“
„Wenn Ihnen das ein Bedürfnis ist…, “ sagte ich, als behandelte ich ein medizinisches Problem, „…dann würde ich evangelisch. Da sind wenigstens die Kirchen geheizt…“
„Das kann man von diesen katholischen Kathedralen nicht behaupten, “ sagte Herr T. und irgendwie klang er verächtlich. „ Im Übrigen habe ich keine Lust ständig auf die Knie zu fallen, um mein Haupt zu verneigen…“
„Aus orthopädischer Sicht kann ich Ihnen dazu auch nicht raten, “ sagte ich und sah Herrn T. über meine Brille an.
„ Dann kann ich ja auch kein Moslem werden…,“ sagte Herr T. und irgendwie klang er erleichtert.
„Sieht so aus…“, nickte ich und blätterte in seiner Krankenakte. „ Da bleibt ihnen nur noch der mosaische Glaube…“
„Ich kann Hüte nicht ertragen…,“ nörgelte Herr T. „… dann sehe ich einfach idiotisch aus…“
„Dann lässt man Sie nicht in die Synagoge…“ sagte ich schlicht.
„Ich wusste doch, diese Religionen kommen immer wieder auf ihre alten Hüte zurück…“ verzog Herr T. seine Nase, als würde er von einem lästigen Insekt gequält. Dabei spielte er mit seinen Fingern wie mit einem Rosenkranz.
„Vielleicht ist ja im Himmel auch kein Platz mehr für Sie frei…,“ lächelte ich und gab Herrn T. die Hand.
Herr T. stand umständlich auf. Und während er mich wie Judas umarmte, raunte er mir ins Ohr:
„Aber dann fahren wir gemeinsam in die Hölle…!“
Autor:Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg |
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