1. Dinslakener Literatur-Hotel-Preis: Sabine Schulz

Nur das eine Mal

Sofie war ein schüchternes, etwas zu dickes Mädchen. Sie war in der Schule in der Klasse 5a und Anja gegenüber in der Klasse 5b. Man kannte sich vom Sehen her, aber nie sprach Anja ein Wort mit Sofie oder umgekehrt. Das ergab sich einfach nicht. Auch dann nicht, als beide die zehnte Klasse erfolgreich abgeschlossen hatten. Anja war schlank mit langen braunen Haaren. Sie war sehr selbstbewusst. Sofie war das genaue Gegenteil. Erst fünf Jahre später kreuzten sich die Wege von Sofie und Anja. Beide arbeiteten in einem großen Kaufhaus als Verkäuferinnen. Eine wunderbare Freundschaft wuchs heran und es gab viele Neid darauf bei den Kolleginnen.

Anja hatte sehr tolerante Eltern. Sofie und Anja durften im Wohnzimmer der Eltern stundenlang Videos anschauen. Auch Anjas fester Freund Mario ging bei den Eltern ein und aus. Mario kam aber immer erst an zweiter Stelle. Für Anja ging die Freizeitgestaltung mit Sofie immer vor. Anja verliebte sich zu allem Überfluss auch noch in Ralf, der auch im Kaufhaus arbeitete. Nun gab es keinen Tag, an dem man die drei nicht zusammen sah. Sofie, Anja und Ralf gingen zusammen Schwimmen, Einkaufen und Eis essen. Man sah sie zusammen in einem Cafe sitzen oder man traf sie im Kino. Obwohl Sofie etwas schüchtern und auch ängstlich war, widersprach sie nicht, als Ralf sie eines Tages zu einem Tauchlehrgang angemeldet hatte. Sofie machte wirklich jeden Blödsinn mit.

Dieser Tauchlehrgang ging über sieben Wochen. Etwas 18 Teilnehmer (überwiegend männliche) hatten sich angemeldet. In den ersten drei Wochen gingen Sofie, Anja und Ralf zweimal in der Woche zum theoretischen Unterricht. In den nächsten vier Wochen traf man sich im Hallenbad. Der praktische Teil sah wie folgt aus: Zuerst lernte man, dass man in die Taucherbrille spucken musste und dann alles schön verschmieren. So beschlug die Brille beim Tauchen angeblich nicht. Hier lernte man das richtige Abtauchen mit der Sauerstoff-Flasche auf dem Rücken. Man wandte die Taucher-Zeichensprache an und es wurde gezeigt, wie man die Taucherbrille unter Wasser ausblies. Sofie verpasste zwei Stunden, denn einmal war sie krank und einmal hatte sie zu viel Angst: Sie wollte einfach nicht lernen, wie man sich unter Wasser verhält, wenn nur eine von zwei Sauerstoff-Flasche funktionierte...

Es war ein feuchter, kalter Herbsttag, als sich alle Teilnehmer an einem See zum Tauchen trafen. Sofie hatte Schwierigkeiten ihren Taucheranzug anzuziehen. Ein netter männlicher Teilnehmer von etwa 55 oder 56 Jahren half Sofie. Er sagte: „Bisher habe ich Frauen immer nur ausgezogen, doch sie anzuziehen, ist auch mal schön.“ Mit diesen Worten hob er Sofie samt Taucherhose in die Luft. Eine ausgelassene Stimmung herrschte.

Anjas Freund Mario war auch da. Er kam mit seinem Wohnmobil. Er wartete auf Sofie, Anja und sogar auf Ralf mit einer heißen Suppe nach dem Tauchgang. Das war wunderbar. Anja wollte mit Tauchlehrer Thomas abtauchen, doch der sagte: „Du, Anja tauchst mit meinem Kollegen Martin und Sofie taucht mit mir.“ Sofie war überglücklich, denn sie fand Thomas mehr als nur nett. Thomas hatte Ralf gesagt, als er Sofie etwas kennen gelernt hatte: „Verdammt, warum habe ich Idiot bloß so früh geheiratet.“

Thomas war auf dem besten Wege, sich in Sofie zu verlieben. Thomas reichte Sofie seine Hand. Langsam füllte sich Sofies Taucheranzug mit kaltem Wasser. Thomas nahm Sofies Hand fest in seine Hand und dann zog er sie in die Tiefe. Der dunkelgrüne See machte Sofie Angst. Die Spannung aber wuchs. Ein feiner Sandberg ging steil ab in die Tiefe. „Da! Da war etwas Rotes, dass auch noch silbern glänzte. Ein Fisch? Oh, nein. Es war nur eine Cola-Dose.“

Immer tiefer zog Thomas die angespannte Sofie. Dann kam den beiden etwas entgegen. „Was war das denn nur? Hoffentlich nichts Gefährliches. Es war ja so schrecklich dunkel. Oh nein! Es war nur eine sehr große durchsichtige Plastiktüte.“ Nicht ein einziger Fisch war zu sehen. Sofie bekam auf einmal ein unangenehmes Knacken in den Ohren. Sie hatte den Druckausgleich an Land vergessen. Sie schlug Thomas mit der Faust auf den Oberarm und machte mit der rechten Hand eine Wellenbewegung. Das hieß so viel wie: „Es ist etwas nicht in Ordnung.“ Sofort tauchten beide nach oben.

Sofie konnte es gar nicht abwarten, zur Oberfläche zu kommen. So viel Wasser war über ihr. Sofie wurde unruhig, doch Thomas hielt sie fest. Nur ganz langsam schwammen sie an die Wasseroberfläche. Es schien kein Ende zu nehmen. Doch dann wurde es mit einem Mal heller und Sofie war so erleichtert, als sie endlich oben war. Sofie war zehn Minuten unter Wasser gewesen und sie war zusammen mit Thomas fünf Meter tief getaucht. Das alles stand schwarz auf weiß in Sofies Taucherheftchen, welches sie später von Thomas überreicht bekam. Sofie war so stolz auf sich. Sie hatte es geschafft.

Ralf hatte es nicht geschafft. Er hatte massig Blei um seinen Köper, doch die Angst vor der Tiefe ließ ihn nicht hinunter kommen. Er blieb an der Oberfläche, dabei hatte er sich noch gebrüstet, er habe schon einmal getaucht. Anja dagegen ging mit Tauchlehrer Martin ab in die Tiefe, als hätte sie noch nie etwas anderes in ihrem Leben gemacht. Ein Erinnerungsfoto hatte Mario, Anjas Freund, von Anja, von Sofie und Thomas gemacht, als diese gerade im See standen und kurz danach abtauchten.

Sofie liebte das Foto und sie würde es immer in Ehren halten. Sie wusste aber auch, dass sie nicht zum Tauchen geboren war. Ihre Angst würde sie nie ablegen können.

Sie sah Thomas nie wieder. Für Thomas Ehe war es so natürlich am besten. Ob es für Sofie und Thomas so am besten war, wird man nie erfahren. Sofie erzählte es niemanden. Aber Tauchen, Tauchen würde sie niemals wieder.

Autor:

Günter Hucks aus Dinslaken

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