Die Ungewissheit hat ein Ende
LÜTTINGEN.- Am 5. Oktober 1971, kurz vor 11:00 Uhr, flogen zwei zuvor auf dem Fliegerhorst Laarbruch gestartete „Canberra“-Düsenbomber der 16th Squadron im Tiefflug von Xanten aus kommend Richtung Rhein. Kurz vor Lüttingen erlitt die Maschine mit der Registration „WT366“ einen Strömungsabriss und verlor plötzlich an Höhe. Der Pilot entschied, durch Hochziehen der Maschine einen Absturz inmitten des Dorfes zu verhindern, anstatt sich und den Navigator durch Betätigung des Schleudersitzes zu retten. Durch dieses Manöver stieg die Maschine steil in die Höhe und stürzte unweigerlich ab. Sie schlug am heutigen Willibrordusweg, nur 150 Meter hinter den letzten Häusern Lüttingens, auf. Durch sein besonnenes Handeln bewahrte Keith Roland Holmes das Dorf vor großem Leid. Hätte er anders entschieden, wären wahrscheinlich viele Häuser, u.a. Schule, Kindergarten und Pfarrkirche, getroffen worden. Unmittelbar vor dem Absturz donnerte die Maschine nur knapp über die Dächer Lüttingens hinweg. Auf Initiative und Dank der Recherche des Vorstandsmitglieds Ludger Rodermond ehrte der HBV Lüttingen am 8. Oktober 2011 anlässlich des 40. Jahrestages die Besatzung mit einer Gedenktafel am See nahe der Unglücksstelle. Am darauffolgenden "Memorial Day" stattete eine Delegation den Gräbern der beiden Opfer auf dem Militärfriedhof in Mönchengladbach-Rheindahlen einen Besuch ab und legte zwei Kränze nieder.
Trotz der Bemühungen offizieller Stellen konnten damals leider keine Angehörigen ausfindig gemacht werden, um sie zur Gedenkfeier einzuladen. Nun, zwei Jahre später, wendet sich überraschend die Schwester des Piloten, Wendy Holmes, hilfesuchend an den Vorsitzenden unseres Vereins. Dank der Vernetzung verschiedener Internetforen wurde sie von einem Veteranen zur Homepage des HBV weitergeleitet und nahm Mitte Oktober 2013 Kontakt zu ihm auf. Ein lebhafter und substanzieller Briefwechsel mit dem Initiator Ludger Rodermond schloss sich an. Die Tragik des Unglücks war aus Sicht der Familie kaum in Worte zu fassen, wurden Ursache und Hergang seitens der Royal Air Force doch stets geheimgehalten. Die übermittelten Informationen des HBV, welche die heldenhafte Tat des eigenen Bruders eindeutig belegen, wurden von Wendy Holmes mit großem Dank entgegengenommen. "So hat das Schreckliche doch noch einen Sinn bekommen", schrieb sie und ihre feste Absicht, die Absturzstelle und das Grab ihres Bruders zu besuchen, wird der Heimat- und Bürgerverein nachhaltig unterstützen. Ludger Rodermond dankt Wendy Holmes, welche heute im Staat British Columbia (Kanada) lebt, sehr herzlich für die Zurverfügungstellung der Informationen und Bilder ihrer Familie. Damit bekommt der „Retter von Lüttingen“ endlich ein Gesicht. Besonders anrührend ist eine Aufnahme, welche ihn und seine Verlobte am Tag vor dem Absturz zeigt. „Das geht unter die Haut“, so Rodermond. Mittlerweile hat sich Wendy Holmes den zugesandten Film der Gedenktafelenthüllung und Kopien der dem HBV vorliegenden Dokumente ansehen können. Tief bewegt, jedoch dankbar beschreibt sie die Aufarbeitung der Geschehnisse als „schwierige, emotionale Reise in die Vergangenheit“.
Die vertane Chance
Im Jahre 1981 besuchten die Eltern von Keith und Wendy unerkannt das Dorf Lüttingen, in Unkenntnis dessen, was wirklich vor Ort geschah. Erst später erhielten sie aus den Händen eines Wing Commanders Luftaufnahmen von der Absturzstelle, welcher sich ihrer erbarmte und der Ungewissheit wenigstens zum Teil ein Ende bereitete. Auf der Suche nach geeigneten Dokumenten für unsere Berichterstattung fand Wendy Holmes im Nachlass eine Kopie des Briefes, den sie an besagten Offizier verfasste. Hier ein Auszug daraus:
„(...) Die Ursache für die uns anhaftende Verzweiflung innerhalb der letzten 10 Jahre lag darin, daß wir nicht mehr wußten als die auf dem Totenschein ausgewiesene Örtlichkeit beim Dorf Lüttingen und zu akzeptieren hatten, keine Möglichkeit mehr eingeräumt zu bekommen, ihn vor der Beerdigung noch einmal zu sehen. Als wir im Juni Deutschland besuchten, fühlten wir uns unfähig, den Lüttinger Pastor oder Schulleiter persönlich anzusprechen, aus Angst vor Anfeindungen – im Falle, daß in der örtlichen Bevölkerung Menschen ihr Leben lassen mußten oder ihren Besitz verloren hatten. Die Informationen, die sich uns nun aus den Luftbildaufnahmen der Absturzstelle offenbaren, haben diese Befürchtungen zertreut. (...)“
Durch die Geheimhaltung seitens der Royal Air Force erfuhren die Eltern leider nicht mehr von der Heldentat ihres Sohnes. Der Vater verstarb 1982, die Mutter folgte ihm 2005. Ihre Asche wurde auf dem Grab von Keith Roland Holmes verstreut.
Autor:Ludger Rodermond aus Xanten |
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