Susanna Ernst: Leseproben zu dem Buch “Deine Seele in mir”
Leseprobe “Deine Seele in mir”
Prolog
Es war ein gewöhnlicher Dienstagmorgen, der Beginn eines weiteren heißen Spätsommertags, in einem winzigen Dorf namens Madison Spring. Die ganze Welt schien ein einziges Sonnenblumenfeld zu sein. So weit das Auge reichte, reckten die leuchtenden Blumen ihre Köpfe der Sonne entgegen. In ihrer Gesamtheit bildeten sie einen perfekten Kontrast zu dem Himmel, der an jenem Morgen näher zu sein schien als sonst.
Kein Wölkchen trübte das Blau, und die Farben der Landschaft waren so kräftig, dass ein guter Maler wohl entschieden hätte, sie etwas abzudämmen, um die Authentizität seines Bildes zu bewahren. Ein Geruch von Honig und trockenem Gras lag in der Luft. Das Knistern der Strohhalme, die unter ihren Füßen wegknickten, mischte sich mit ihrem Gelächter und dem Summen der Bienen zu einer fröhlichen Geräuschkulisse, die ihr Spiel begleitete. Amy und Matt – sie waren Kinder, nicht mal neun Jahre alt, und sie waren glücklich. Über diesen Ferientag, über das perfekte Wetter und den nahen Bach, der ihnen Kühlung und noch mehr Vergnügen versprach. Ihre Mütter hatten ihnen Brot und frisches Obst in die Taschen gepackt – wohl ahnend, dass sie die Kinder vor Sonnenuntergang nicht mehr zu Gesicht bekommen würden. Nichts deutete auf das Unheil hin, das die beiden so bald schon ereilen würde. Es gab keine Warnung und keine Vorankündigung an diesem Morgen – an dem Tag, der Amys letzter in diesem Leben sein sollte.
»Brrrr … ich bin ein Düsenflieger«, rief Matt. Die Arme weit von sich gestreckt, lief er hinter seiner Freundin her und durchschnitt das Blumenmeer in einer Schlangenlinie.
»Ha, Düsenfl ieger! Du bist eine lahme Schnecke, Matty. Wetten, dass ich wieder vor dir am Bach bin?« Lachend warf Amy ihre blonden Zöpfe zurück.
»Wetten, dass nicht! Ich schalte meinen Turboantrieb ein, und wenn ich dich fange, dann kitzle ich dich so lange, bis du nicht mehr kannst.«
Einen aufheulenden Motor nachahmend, beschleunigte Matt sein Tempo. Amy hob ihr Kleid an und presste den Strohhut fest auf ihren Kopf, um ebenfalls schneller rennen zu können. Sie quietschte vergnügt auf, als sie den Kiefern entgegenlief, die sich im lauen Wind wiegten und den Kindern ihre Schatten entgegenstreckten. Am Rande des Wäldchens verströmte der verblühende Lavendel seinen Duft. Süß und schwer überlagerte er die anderen Gerüche.
»Ich hab dich gleich«, verkündete Matt übermütig, nun wirklich schon sehr dicht hinter ihr. Doch Amy lachte laut auf. »Das hättest du wohl gerne«, rief sie ihm über die Schulter zu und rannte, so schnell sie nur konnte.
O ja, es würde ein herrlicher Tag werden. Sie hatten ihre Badesachen dabei, doch weder Matt noch Amy hatten vor, sie auch anzuziehen. Es war eins ihrer wohlgehüteten Geheimnisse: Sie gingen noch immer nackt im Bach baden, das machte einfach mehr Spaß.
»Ihr seid jetzt zu groß dafür, zieht euch etwas über!«, hatten die Eltern sie bereits im letzten Sommer ermahnt. Doch Matt und Amy sahen das anders. Sie fühlten sich frei und unbeobachtet – und sie waren die besten, die wirklich allerbesten Freunde. Also, was war schon dabei? Am Abend würden sie, wie immer in letzter Sekunde, ihre Badesachen in den Bach tunken, notdürftig auswringen und dann eilig nach Hause laufen, noch bevor das Rot der Sonne den riesigen Berg hinter den Wäldern berührte, denn das war die einzige Uhrzeit, die sie in diesen Tagen kannten. Dicht hintereinander liefen sie über die kleine Waldböschung, die das Feld, das sich vor der Siedlung erstreckte, von dem Bach trennte.
Es geschah plötzlich und unerwartet. Wie aus dem Nichts wurde das Mädchen von einem harten Schlag getroffen. Dunkelheit umfing es augenblicklich.
Als sie wieder zu sich kam, roch Amy etwas, das sie – noch ehe sie realisieren konnte, was es war, und noch ehe sie überhaupt ihre Augen geöffnet hatte – zum Würgen brachte. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber sie konnte nicht, denn nur einen Augenblick, nachdem sie ihre Augen aufschlug, umfasste eine rauhe Hand ihren Hals und drückte erbarmungslos zu. Feuchtheißer Atem und mit ihm ein Geruch, dessen widerwärtige Mischung aus Schweiß, Tabak, Schnaps und kranker Lust sie in ihrem Alter noch nicht hätte benennen können, schlug Amy entgegen. Mit einem Herzschlag wurde ihr kalt. Angst steigerte sich binnen Sekunden zu Panik. Sie suchte nach einem Halt, fand keinen, schlug und trat um sich. Doch sie war wehrlos der Kraft dieses maskierten Mannes ausgeliefert.
Eingequetscht zwischen dem kühlen Waldboden unter ihr und dem Gewicht des viel zu heißen Körpers über ihr, spürte sie einen brennenden Schmerz zwischen ihren Beinen. Erschrocken bäumte sie sich auf; ihre Finger krallten sich in die Erde. Doch schon festigte sich der Griff um ihren Hals – dieses Mal endgültig.
In dem Moment, als sich Amy selbst zum letzten Mal atmen spürte, wich die Angst aus ihrem Körper. Das Einzige, was sie noch sah, bevor die Finsternis sie schluckte, waren seine Augen. Nicht die eisig blauen ihres Peinigers, sondern die sanften, braunen Augen ihres besten Freundes. An einen Baum gefesselt, mit einem Knebel im Mund, saß Matt da. Nur etwa einen Meter von Amy entfernt. Eine Wunde klaffte an seiner Schläfe, das Blut rann ihm über die Wange. Matt war außerstande, sich zu rühren. Lautlos starrte er sie an. Und doch – das Mädchen hörte seinen Hilferuf. Es hörte sogar das Zittern in seiner imaginären Stimme.
Bleib bei mir! Bitte, Amy, bleib bei mir! Ich habe solche Angst!
Amy verbannte den Schmerz aus ihrem Bewusstsein. Sie bündelte den Rest ihrer Kraft und gab ihm ihr Wort.
Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!
Dann wurde es erneut dunkel, und diese Dunkelheit war viel tiefer und intensiver als alles, was Amy je zuvor erlebt hatte. Doch sie fürchtete sich nicht mehr, und auch die Kälte war verschwunden. Kurzes, grelles Aufflackern unterbrach das tiefe Schwarz um sie herum nach einer Weile – zunächst nur sporadisch, dann immer regelmäßiger -, und auf einmal sah das Mädchen sein kurzes Leben an sich vorbeiziehen. Bilder wie die eines alten Filmes blitzten auf.
Amy sah sich auf dem Rücken ihres Vaters reiten und dann in den Armen ihrer Mutter liegen. Mit einem feuchten Tuch kühlte sie Amys Stirn, während sie ihr die Geschichte von dem lustigen Zwerg und dem dummen Riesen erzählte. Amy roch den Duft von warmer Milch und frisch gebackenem Obstkuchen, von Getreide und frischem Heu. Sie sah Matty und sich selbst nebeneinander im noch feuchten Frühlingsgras liegen und in den Himmel starren – ein Drache, ein Löwe, ein Auto -, in nahezu jeder Wolke erkannten sie eine Figur.
Ein neues Bild löste die himmlischen Gestalten ab: Amy und Matt, die, bis auf die Unterwäsche entkleidet, auf Holzschemeln in Amys Garten hockten, während sie von ihren Vätern mit Läusekämmen bearbeitet wurden. Dann sah sich Amy beim Klavierspielen. Matt saß neben ihr, lauschte und malte dabei – immer wieder dasselbe Motiv: ihren gemeinsamen großen Traum. Amy sah sich Hand in Hand mit Matty zur Schule rennen. Wie immer in Eile, doch zu spät kamen sie nie. Und in all diesen Bildern sah sie die Sonne hell und warm auf sich und ihren besten Freund herabscheinen.
Schon hatten die Szenen aus Amys Kindheit ihre gesamte Macht entfaltet. Mühelos vernebelten sie die gerade neu hinzugekommenen Erinnerungen an Schmerz und Angst. Amy wollte nicht zulassen, was ihr Verstand ihr ankündigte: Diese betäubend schönen Bilder würden bald enden. Sie würden einfach erlöschen und sterben, zusammen mit ihr. Verzweifelt sog sie jedes Detail ihrer kaleidoskopischen Erinnerungen in sich auf und hielt sich mit der Kraft ihres Daseins daran fest.
Ich muss bei Matty bleiben. Ich darf ihn nicht im Stich lassen.
Niemals, das haben wir uns geschworen.
Manche würden es Trotz nennen, manche einen starken Willen, wieder andere würden vielleicht von grenzenloser Treue sprechen. Fest steht, dass diese Gedanken die letzten der kleinen Amy Charles waren, bevor die Dunkelheit zurückkam, das Kind umhüllte und es erbarmungslos mit sich riss.
1. Kapitel
Einundzwanzig Jahre später
»Matt Andrews, Sie schickt der Himmel! Wie gut, dass Sie so kurzfristig Zeit gefunden haben. Bitte, kommen Sie doch herein.« Mit einer grazilen Geste bedeutet sie mir einzutreten. Die Art, wie sie sich bewegt, ist auch dieses Mal das Erste, was mir an ihr auffällt. Trotz ihrer einfachen Kleidung wirkt sie anmutig.
»Guten Morgen, Mrs. Kent. Ist doch selbstverständlich.« Ich stampfe den Schnee von meinen Schuhen und mache einen großen Schritt auf die Fußmatte. »Wo ist denn Ihr Mann?«
»Im Wohnzimmer, auf dem Sofa. Bitte …« Sie deutet in die Richtung des Wohnraums und geht voran.
Ihr Anruf kam mir nicht gerade gelegen, drei Termine hatte ich verschieben müssen. Doch Menschen wie den Kents kann ich einfach nicht absagen. Über all die Jahre meiner Tätigkeit als Masseur habe ich selten so sympathische Menschen wie Kristin und Tom kennengelernt. Ich könnte es mit meinem Gewissen schlichtweg nicht vereinbaren, sie jetzt im Stich zu lassen. Nicht in einer solchen Situation. Nicht mit dieser Bürde, die sie tagtäglich zu tragen haben.
Durch den Korridor geht es in den offenen Wohnbereich. Hier war ich bisher nur einmal, doch schon damals hatte mich die Gemütlichkeit dieses Raums binnen Sekunden erreicht und freundlich umhüllt. So wie auch jetzt wieder.
Das Feuer im Kamin lodert fröhlich vor sich hin, auf dem dunklen Parkettboden liegen Teppiche in warmen Braun- und Grüntönen. Es riecht nach Kaffee und frischem Brot.
»Tom, Schatz, Mr. Andrews ist da.«
»Gott sei Dank!« Toms Worte haben den Charakter eines erleichterten Stoßgebets. Ich sehe ihn nicht, doch ich ahne, wie schmerzverzerrt sein Gesicht sein muss, als ich sein Ächzen höre.
»Hallo, Tom! Bleiben Sie ruhig liegen«, rufe ich ihm zu.
Als Antwort erhalte ich ein bitteres Auflachen. »Sie sind ein bösartiger Witzbold, Matt. Was bleibt mir auch anderes übrig?« Die Stimme kommt von dem braunen Sofa, das mitten im Raum steht. Die Rückenlehne verdeckt mir die Sicht auf meinen Patienten; lediglich Toms Hand taucht dahinter auf. Als ich um das Möbelstück herumgehe, fällt mein Blick sofort auf die junge Frau, die auf dem Boden sitzt. Ich erschrecke ein wenig, denn es ist meine erste Begegnung mit ihr – auch wenn ich schon so oft von ihr gehört habe.
Mit einem Pyjama bekleidet sitzt sie vor dem Sofa, die Beine verschränkt, und wiegt sich in einem beständigen Rhythmus hin und her. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, sie schaut starr in die Richtung des Kamins und summt monoton vor sich hin. Eine schwere Form von Autismus. Es muss furchtbar sein. Meine Kehle wird trocken, ich räuspere mich. Verdammt, ich sollte mir meine Bestürzung nicht anmerken lassen. Das ist nicht professionell. Sag etwas!
»Das ist also Ihre Tochter?« Diese Frage ist rein rhetorischer Art; im selben Moment, als die Worte über meine Lippen kommen, erscheint sie mir schon töricht. Natürlich ist das ihre Tochter, fällt dir nichts Dümmeres ein?
Kristin antwortet trotzdem in einem liebevollen Ton. »Ja, das ist unsere Julie.«
»Guten Morgen, Julie«, begrüße ich die junge Frau und fühle dabei jeden Muskel, den mein aufgesetztes Lächeln strapaziert. Julie, was für ein hübscher Name!
Ein bedauerndes Schmunzeln, mitleiderregend zugleich, bildet sich auf Toms Gesicht. »Erwarten Sie keine Antwort, Matt. Höchstwahrscheinlich hört Julie Sie nicht einmal!« Ich setze einen verständisvollen Blick auf und nehme in dem Sessel neben der Couch Platz.
»Ja, Tom, ich weiß«, sage ich, bevor ich einige Sekunden schweigend verstreichen lasse – einfach, weil es die Schwere dieses Moments so verlangt. »Also, erzählen Sie. Was ist passiert?« Tom liegt stocksteif auf dem Sofa. Selbst das Sprechen bereitet ihm Schmerzen, auch wenn er versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Seine Finger krallen sich in das Leder.
»Ich habe Julie runtergetragen und sie hier abgesetzt. Natürlich habe ich versucht, die Bewegung aus den Beinen heraus zu machen, wie Sie es immer anraten, aber wahrscheinlich war meine Rückenmuskulatur einfach noch nicht warm genug. Kurz davor habe ich draußen nämlich Schnee geschippt. Dieses Bücken, eigentlich mache ich das doch so oft am Tag … ich verstehe das nicht.«
»Wenn Sie sich gebückt haben, Tom, dann war es nicht aus den Beinen heraus.«
Betreten sieht er zwischen seiner Frau und mir hin und her. Dann deutet er auf sein Kreuz.»Jedenfalls gab es plötzlich einen stechenden Schmerz – genau hier -, und dann zog es bis in die Zehen.« Während er spricht, wandert mein Blick zu seiner Tochter. Dieses Hin- und Herschaukeln hat eigentlich etwas Beruhigendes an sich.
Wieder vergehen einige Sekunden, unbeabsichtigt dieses Mal, bis ich bemerke, dass Tom seine Beschreibung des Vorfalls beendet hat und nun eine Reaktion von mir erwartet. Schnell stehe ich auf und öffne meinen kleinen Koffer, den ich auf dem Couchtisch vor mir abgestellt hatte. »Das klingt wieder nach einem üblen Hexenschuss, Tom. Wenn nicht schlimmer. Sie wissen, dass ich kein Arzt bin, aber es wäre gut, wenn Sie mir genau zeigen könnten, wo es schmerzt.« Tom sieht nicht gerade begeistert aus. Ein tiefes Seufzen entringt sich seiner Kehle.
»Keine Angst, ich tue Ihnen nicht weh.« Ich stelle das Massageöl bereit und helfe ihm, sich auf dem Sofa zur Seite zu drehen. Kristin kommt dazu und zupft das Hemd ihres Mannes aus dem Hosenbund, während ich ein wenig Öl zwischen meinen Händen verreibe und sie warmknete. Toms Muskulatur ist völlig verspannt. Er zuckt zusammen, als ich ihn berühre.
»Schon gut. Sagen Sie mir einfach, wenn ich den richtigen Punkt habe«, bitte ich ihn. Doch noch bevor er den Mund aufmacht, spüre ich es bereits.
»Da!«
»Ja. Das ist genau dieselbe Stelle wie beim letzten Mal.« Ich massiere behutsam über seine Seiten. Er entspannt sich etwas und atmet nun tiefer. Gut. Die folgende Nachricht wird ihm die Luft wieder rauben, also zögere ich sie so lange wie möglich hinaus. Doch bald schon ist das Öl aufgebraucht und Toms Schonfrist damit abgelaufen. Vorsichtig drehe ich ihn wieder auf den Rücken.
»Es ehrt mich ja, dass Sie mich sofort angerufen haben, aber ich fürchte, dass Sie dieses Mal nicht an einem Arzt vorbeikommen werden. Wir müssen abklären, ob es nicht doch ein Bandscheibenvorfall ist.« Der arme Kerl sieht aus, als hätte ich soeben die Todesstrafe über ihn verhängt. Wieder stößt er sein bitteres Lachen aus und fixiert dabei die hohe Zimmerdecke. Mit beiden Händen streicht er sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn.
»Es darf kein Bandscheibenvorfall sein. Wie soll Kristin denn ohne mich klarkommen?«, wispert er, mehr zu sich selbst als zu einem von uns. »Wenn ich es schon nicht mehr schaffe, Julie zu heben, wie soll sie das denn erst machen?«
Mein Blick fällt wieder auf die junge Frau. Von meiner jetzigen Position aus sehe ich ihr Gesicht im Profi l. Sie ist eigentlich recht hübsch. Geradlinige Gesichtszüge, volle Lippen. Die dunklen, welligen Haare fallen offen bis weit über ihre Schultern hinab. Doch etwas Entscheidendes fehlt ihr. Sie sieht absolut ausdruckslos und seltsam leer aus, ohne die Spur einer eigenen, persönlichen Note. Ihr Gesicht wirkt wie eine aufgesetzte Maske. Ja, wie eine seelenlose Hülle. Sie erinnert mich an eine Schaufensterpuppe. Dennoch – Julie hat etwas Faszinierendes an sich. Sie macht mich neugierig. Wieder reiße ich meinen Blick von ihr los.
»Warum tragen Sie Julie überhaupt? Kann man sie denn nicht irgendwie zum Laufen bewegen? Ich meine … sie kann doch laufen, oder?« Meine Frage stelle ich beinahe ängstlich und befürchte, in ein Fettnäpfchen von der Größe eines Baseballfeldes getreten zu sein, doch zu meiner großen Erleichterung nickt Kristin sofort.
»Ja, natürlich! Julie läuft hervorragend. Aber nur, wenn sie es will und auch nur, wohin sie will. Und dieses Herunter- und Hinauftragen gehört zum Alltagsritual. Das machen wir schon immer so, seitdem sie ein Baby war. Jeden Morgen und jeden Abend. Wenn wir es nicht tun, dann rührt sie sich nicht, wir haben das schon probiert.«
Tom nickt ebenfalls. »Anscheinend wartet sie darauf, dass wir sie tragen. Und wir möchten sie ja auch hier unten haben, bei uns.« Kristin sieht auf ihre Tochter hinab und streicht ihr über den
Kopf. »Beim Sprechen ist es ähnlich. Sie spricht so gut wie nie, doch wir wissen, dass sie es kann. Manchmal redet sie, aber dann ist es so, als ob jemand im Schlaf vor sich hin erzählt. Die Wortfetzen sind wie Bruchstücke aus ihrer eigenen kleinen Welt. Sie ergeben keinen Sinn für uns. Und auf Ansprache reagiert sie eigentlich gar nicht.« Kristin presst die ohnehin schon schmalen Lippen aufeinander, so dass sie fast völlig verschwinden und nur noch eine hauchdünne, gerade Linie sichtbar bleibt. Sie atmet tief durch und zuckt mit den Schultern.
»Für Außenstehende ist es sehr schwierig, das nicht als böse Absicht von Julie abzutun, wenn wir sie wiederholt ansprechen und sie einfach keine Reaktion zeigt. Aber … so ist es nun mal. Wir
haben keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Trotzdem reden wir natürlich mit unserem Kind. Ab und zu blitzt etwas in ihren Augen auf. Dann weiß ich, dass sie mich wahrnimmt. Manchmal lächelt sie uns sogar an, doch nur eine Sekunde später ist ihr Blick wieder starr und Julie erneut weit weg. Es ist … nicht schön!« Kristin schafft es trotzdem, ihrem Lächeln eine tiefe Glaubwürdigkeit zu verleihen.
»Egal«, sagt Tom. »Ein klarer Blick von ihr ist auf jeden Fall all die Mühe wert.« Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck nachdenklich.
© 2011 Knaur eBook
Autor:Werner Becker aus Xanten |
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