Der Xantener Knabenmord - ein düsteres Kapitel der Stadtgeschichte

Der auf dem Grabstein sitzende Engel ist dem getöteten Knaben nachempfunden.
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  • Der auf dem Grabstein sitzende Engel ist dem getöteten Knaben nachempfunden.
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Xanten - 11.09.2012/ aktualisiert am 21.09.2012

von Christel und Hans-Martin Scheibner

Gestern, an einem wunderschönen Spätsommernachmittag, besuchten wir den Xantener Friedhof. Schon oft waren dort, doch erst diesmal fiel uns eine Grabsteininschrift auf, die besagte, daß dieses Denkmal für einen kleinen Jungen aufgestellt wurde, welcher zu Peter und Paul im Jahre 1891 ermordet wurde.

An diesem besagten Peter- und Paulstag 1891, dem 29. Juni, spielten fünf Kinder fröhlich in der Kirchstraße (im Bereich der Klever Straße) in Xanten, unter ihnen auch der fünfeinhalbjährige Johann Hegmann, Sohn des Schreinermeisters Hegmann in Xanten. Gegen10 Uhr wurde er das letzte Mal gesehen und kam weder zum Frühstück noch zum Mittagessen nachhause.

Das Hochamt war um 10 Uhr. An diesem Tag versammelten sich die Xantener in geselliger Runde, wie auch in anderen niederrheinischen Orten üblich, um ihre Pumpen, so auch um die vor der Metzgerei Buschhoff, welches sich Ecke Kirchstraße/Porteweg (Torweg) befand. Dieses Zusammentreffen nennt man auch "Pumpen-Kirmes". Man trinkt Bier miteinander und redet über örtliche Angelegenheiten. Viele gingen auch in die Schaut'sche Wirtschaft zum Kegeln, auf dem Schützenplatz fand eine Parade statt.

Abends um halb 7 Uhr fand die Dienstmagd Dora Moll den Jungen in der sogenannten Fruchtscheune des Stadtverordneten und Kaufmanns Küppers in Xanten - ermordet. Der Täter hatte versucht, die Kinderleiche unter in der Scheune reichlich vorhandener Spreu zu verstecken, in den krampfhaft geballten Händen hielt er Spreu und Mohnköpfchen. Sein Hals war bis fast zum Rückenwirbel durchschnitten, der kleine Körper schwamm förmlich im Blut. Nur wenige Spritzflecken waren in der Scheune zu sehen. So steht es in der Kriminalakte.

Nach Auffinden des ermordeten Kindes hielt man den Mord zuerst für die Tat eines Verrückten, da man niemanden im Ort diese Tat zutrat. Auch zog man in Erwägung, daß das Kind durch das wohl früher bei Kindern übliche Schweineschlachten-Spiel zu Tode gekommen sei.

Unter Mordverdacht stand dann jedoch letztendlich sehr schnell der jüdische Metzger und Viehhändler sowie Hersteller jüdischer Grabsteine Adolf Buschhoff, Vorbeter der jüdischen Gemeinde Xanten. Er galt bisher eher als unauffällig und ordentlich und pflegte freundschaftlichen Kontakt zu den Christlichen Mitgliedern in Xanten - vorwiegend Katholiken sowie einige Protestanten, besaß also allseits einen guten Ruf. Sein Schlachthaus befand sich in der Nähe der Küpper'schen Scheune. Dort soll der Junge hineingezogen und ermordet worden sein - doch es gab im Grunde ja keinerlei Blutspuren vom Schlachthaus zur Scheune.

Es hieß, Juden hätten das Kind zu religiösen Zwecken ermordet. Man sprach von einer Blutleere der Leiche - wohl eher zurückzuführen auf die starke Blutung nach der Verletzung - und einen typischen Schächterschnitt als besondere Auffälligkeit und Erhärtung dieses Verdachts. Was hatte es mit diesem Ritalmordgeschichten auf sich ? Man glaubte damals, daß Juden für die Herstellung des Mazzen, dem jüdischen Knäckebrot, ungesäuertes Brot, welches zu Pessach gebacken wird, Blut von Christen verwenden.,

Viehhändler, Kaufmann und Metzger Heinrich Junkermann, einer der Gutachter, erfand die Bezeichnung "Schächterschnitt". Die weitere Begutachtung nahmen Dr. Josef Steiner sowie Heildiener Gerhard Rennings vor. Allerdings dementierte Herr Dr. Steiner den Begriff Schächterschnitt, da ihm ein solcher ja gar nicht bekannt sein könnte. Allerdings wäre dieser Schnitt mit einem langen, haarscharfen Messer vorgenommen worden. So wurde das Gutachten nur noch mit den Namen Rennings, Küppers, und Junkermann versehen.1892 schrieb Paul Nathan amüsiert im Boten, daß die Angaben von einem Xantener Bader, einem Xantener Bierbrauer und einem antisemitisch agierenden Viehhändler, der zudem das tote Kind nie gesehen habe, stamme.

Warum so unerwartet dieser schlimme Verdacht ? Es schien bisher so, als würden Juden und Christen in friedlicher Eintracht miteinander leben. Der Antisemitismus in Deutschland ist jedoch keine nationalsozialistische Erfindung, sondern war in der deutschen Bevölkerung tief verwurzelt, wohl die Erklärung dafür, daß der im Verborgenen schwelende Haß urplötzlich wieder aufflammte. So kam es, daß man am 12. Juli 1891 jüdische Häuser und Geschäfte innerhalb der Stadt Xanten, insbesondere das "Möderderhaus" der Familie Buschhoff, wo sich eine aufgebrachte Menschenmenge zusammengerottet hatte, mit Steinen beworfen wurden. Viele Scheiben wurden zertrümmert, und es soll zu tätlichen Übergriffen auf offener Straße gegen jüdische Mitbürger gekommen sein, welche man mit "Hepp-Hepp-Rufen" durch die Gassen jagte. Am 7. und 8. August 1891 wiederholten sich diese schrecklichen Vorkommnisse.

Unter den Schülern Xantens waren Lieder im Umlauf, welche Juden der Schächtung von Kindern bezichtigten.

Metzger Buschhoff bat den damaligen Bürgermeister Schleß um seine Verhaftung, doch dieser lehnte ab, woraufhin ihm nichts anderes übrigblieb, als zu seinen Verwandten zu fliehen.

Am 14. Oktober 1891 wurden Adolf Buschhoff als Haupttäter und Frau und Tochter auf Verdacht von Mittäterschaft verhaftet. Am 20. Oktober eröffnete das Landgericht Kleve seine gerichtlichen Voruntersuchungen. Der die Verhandlung leitende Richter Brixus betonte, daß er die Familie jedoch nur zur Sicherheit in Haft genommen hätte, da sie in Xanten den Nachstellungen der Bürger ausgeliefert und dort in Lebensgefahr waren. Der vorläufige Abschluß der Voruntersuchungen erfolgte am 24. Januar 1892 unter Protest der Medien, Politik und Kirche, welche aufgrund dieses Urteils die Unparteilichkeit der Justiz in Frage stellte.

Am 6. Februar 1892 erstellte Kreisphysikus Dr. Bauer ein zweites Gutachten. Sämtliche Metzgermesser Buschhoffs wurden auf ihre Eignung zum Durchschneiden der Kehle des Jungen hin untersucht - als Tatwaffe wurde Messer 13 ermittelt. So wurde Buschhoff am 7. Februar 1892 auf Anraten von Oberstaatsanwalt Hamm erneut inhaftiert, und vom 04. bis 14. Juli 1892 erfolgte die Hauptverhandlung. Man spricht hier von einem Schauprozeß, welcher den Ruf der unabhängigen Justiz wiederherstellen sollte. Dieser sollte jedoch nicht der Schuldfindung dienen, sondern die Unschuld Bischhoffs beweisen, da weder der Staatsanwalt noch der von staatlicher Seite eingesetzte Kläger von seiner Schuld überzeugt waren. Sieben weiter Tatverdächtige hatte es im Vorfeld schon gegeben - die entsprechenden Untersuchungsverfahren diesbezüglich waren inzwischen abgeschlossen.

164 Zeugen wurden in neun Verhandlungstagen vernommen. Unverhältmäßig groß war das Aufgebot, welches hier betrieben wurde. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Kluth, Beisitzer waren Landgerichtsrat Grütering und Stickers, Ersatzrichter Landgerichtsrat König. Die öffentlichen Ankläger waren Erster Staatsanwalt Baumgard aus Kleve und Oberstaatsanwalt Hamm aus Köln. Zwölf Geschworene sowie zwei Ergänzungsgeschworene kamen hinzu, drei Rechtsanwälte - Fleischhauer aus Kleve, Gummersbach aus Köln und Stapper aus Düsseldorf - übernahmen die Verteidigung Adolf Buschhoffs. Der 150 Personen umfassende Gerichtsaal war bis auf den letzten Platz besetzt, nur 16 der Presseleute fanden noch Platz von den unzähligen Kollegen, welche sich aus aller Herren Länder eingefunden hatten.

Die Zeugenaussagen waren sehr widersprüchlich, oft haarsträubend. Nach Beendigung der Beweisaufnahme erfolgte am 10. Tag das ausführliche Plädoyer. Oberstaatsanwalt Hamm machte den Anfang, anschließend folgten die Ausführungen des Ersten Staatsanwalts Baumgard. Zum Schluß hieß es: "In seiner ganzen kriminalistischen Praxis sei ihm kein Fall vorgekommen, wo das Alibi des Verdächtigen so genau nachkonstruiert werden konnte."

Buschhoff wurde unter heftigem Beifall der Anwesenden freigesprochen und noch am selben Tag aus der Haft entlassen.

Redakteure und Privatpersonen wurden aufgrund gezielt verbreiteten falschen Gerüchten und Beleidigungen, aber auch wegen Beteiligung an den Ausschreitungen nach dem Mord in mehreren gesonderten Gerichtsverhandlungen verurteilt.

Doch im Nachhinein hielt die Presse, aber auch die Bevölkerung Buschhoff immer noch für den Täter, der Freispruch sei nur wegen Mangels an Beweisen erfolgt. So bedeutete dieses Urteil keinesfalls eine Entspannung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden. Der sogenannte "Xantener Knabenmord" wurde in zahlreichen Publikationen des Deutschen Kaiserreichs erörtert. Familie Buschhoff wurde von den Xantenern nicht mehr in der Heimatstadt geduldet, was auch für viele weitere Xantener Juden galt. Buschoffs Haus war eh während seiner Abwesenheit vom aufgewiegelten Pöbel angezündet worden und existierte nicht mehr, der Standort wurde jedoch zur Pilgerstätte. Seine Freunde sammelte für den zu Unrecht Beschuldigten 50.000 Mark Schmerzensgeld, für damalige Zeiten eine enorme Summe und sicher ein willkommenes Startkapital für den durch die Vorwürfe und Inhaftierungen stark angeschlagenen Metzger. Alle Juden verloren ihre Existenzgrundlage und mußten ihre Heimat verlassen. Adolf Buschhoff lebte seither mit seiner Familie im heutigen Stadtteil Köln-Ehrenfeld, wo er am 8. Dezember 1912 verstarb und dort neben seiner Frau auf dem Deutzer Judenfriedhof begraben wurde.

Schon in den 20ern sah man im Tourismus einen gewinnbringenden Wirtschaftsfaktor. In zahlreichen Auflagen und Ausführungen erschienen Stadtführer, in welchen auch das Haus in der Kirchstraße hingewiesen wurde, dort, wo sich der Kindermord im Jahre 1891 abgespielt hatte.

So geriet der Fall nicht in Vergessenheit und diente den Nationalsozialisten der 30er und 40er Jahre für ihre Propaganda. 1941 wurde zum 50. Jahrestag der angebliche Xantener Ritualmord zu propagandistischen Zwecken regelrecht ausgeschlachtet und heizte den von 1933 - 1945 besonders stark vorherrschenden Judenhaß zusätzlich an.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Grab des Johann Hegmann aufgehoben. Den Grabstein, auf dem ein Marmorengel sitzt, der einem fünfjährigen Knaben nachempfunden ist, stellte man zusammen mit einigen weiteren vor der Friedhofskapelle des Xantener Kommunalfriedhofs auf. Die Inschrift ist noch deutlich zu entziffern.

Noch heute ist die Legende vom Xantener Ritualmord nicht ganz aus der Welt. Ist es immer noch vorherrschender Antisemitismus oder nur Unwissenheit, daß dieser Aberglaube bis in die heutige Zeit überdauert hat ?

Seit Anfang 2012 nun hat sich Bäcker Hans Küppers - Enkel des Bäckers Wilhelm Küppers, in dessen Cafè jahrelang das Scheunenfoto hing - vorgenommen, die alten Akten durchzuarbeiten. Die Originalprozeßmitschrift befindet sich in seinem Besitz, und er hat nun, mit 60, genügend Zeit, sie zu studieren, da er seine Bäckerei geschlossen hat.

Hier der Link zu meinem Interview mit Herrn Küppers, dem Enkel des Bäckers Wilhelm Küppers, vom 18.09.2012:

http://www.lokalkompass.de/xanten/kultur/auf-spurensuche-der-xantener-knabenmord-d230888.html

Der Knabenmord in Xanten - Geschichtliche Hintergründe:

http://www.zeno.org/Kulturgeschichte/M/Friedl%C3%A4nder,+Hugo/Interessante+Kriminalprozesse/Der+Knabenmord+in+Xanten

Der Hauptprozeß vom 4. - 14. Juli 1892:

http://de.wikisource.org/wiki/Der_Knabenmord_in_Xanten_vor_dem_Schwurgericht_zu_Cleve_vom_4._bis_14._Juli_1892

Hier ein Artikel über die Hintergründe der "Hep-Hep" oder auch "Hepp-Hepp" Krawalle. Ich habe recherchiert und fand für diesen unsinnigen Schlachtruf als Erläuterung den Begriff Heppe, was her bedeutet, aber womit mundartlich auch Ziegen bezeichnet werden.

http://www.heinrich-heine-denkmal.de/dokumente/graetz-hep.shtml

Schweineschlachten-Spiel-Märchen der Gebrüder Grimm, welche in späteren Ausgaben zusammen mit anderen Märchen zensiert wurden:

http://de.wikisource.org/wiki/Wie_Kinder_Schlachtens_mit_einander_gespielt_haben_%281812%29

Hier ein Artikel der Rheinischen Post vom 10.11.2009 "Die Vorurteile leben" über den Knabenmord:

http://www.rp-online.de/niederrhein-nord/xanten/nachrichten/die-vorurteile-leben-1.1044938

Die WAZ veröffentlichte am 12.01.2012 einen Bericht über die Schließung der Bäckerei Küppers an der Klever Straße. Hier finden Sie auch ein historisches Photo von der Bäckerei:

http://www.derwesten.de/region/niederrhein/der-ofen-der-baeckerei-kueppers-in-xanten-geht-aus-id6237061.html

Artikel in Bild vom 20.01.2012: Wird der Xantener Knabenmord aufgeklärt ?

http://www.bild.de/regional/ruhrgebiet/mord/knabenmord-nach-120-jahren-aufgeklaert-22172982.bild.html

Der regionale Fernsehsender WM-TV, das heutige center-TV, drehte Anfang des Jahres einen Film über diesen Mord. Er zeigt auch ein Interview mit Herrn Küppers. Hier der Link:

http://www.youtube.com/watch?v=rUseaJhJWiY

Autor:

Hans-Martin Scheibner aus Xanten

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