Eintrag kulturelles Tagebuch: 06. März; von gerafftem Kino und dem Gegenteil der Heilig-Abend-Herrensocke
Das niederrheinische Filmfestival klingt in mir nach wie eine Triangel in der Größe der Niederrheinbrücke — und so will ich ein paar Gedanken niederschreiben, die nun zu ihrer Vollreife gelangt sind und mithilfe einer Tatstatur gepflückt werden können. Ideencocktailfrüchte quasi.
Der eine oder andere wird sich bei der Auslobung des Filmfestivals für Wesel und den Niederrhein gedacht haben, dass sich pompöse Selbstüberschätzung einen Wirt gesucht hätte, und dass das Scala von ihm befallen wäre. "Filmfestival in Wesel" würde in dieser Lesart klingen wie die Durchsage im Supermarkt, dass es in der neuen Abteilung »gebrauchte, russische Röntgengeräte« tolle Angebote gibt — also irgendwo angesiedelt zwischen überambitioniert und überflüssig.
Ich gebe zu, dass eine abgeschwächte Version dieses Gedankens auch in meinem Kopf aus- und einging ("Is Wesel nich ein bissel klein dafür?")
…Eine Idealbedingung, um eines Besseren belehrt zu werden.
Wie damals, als ich bemerkte, dass löslicher Kaffee in Orangensaft irgendwie ziemlich cool schmeckt, wurden mir auch hier neue Horizonte eröffnet, die mit den Silberstreifen komprimierter Bildsprache garniert waren. Und Bildsprache ist eine Weltsprache, die von wohltuend weltfremd bis weltoffen und weltoffenbarend Alles sein kann.
Durch die Tragkraft dieser Idee hat Wesel bewiesen, dass es groß denkt, groß handelt und hat eben dadurch Größe gezeigt.
Alles, was Film kann… in gerafftem Zustand.
Jeder Film, jedes Filmchen eine handverlesene — nein, was schreib' ich da — eine augenverlesene Exklusivität. Und so ungeheuer facettenreich und kunterbunt gemischt.
Das Zuschauerempfinden wird natürlich gefordert in Anbetracht der radikalen Themenwechsel, man wird ja wie in einem Flipperautomaten von Gefühlsregung zu Eindruck und wieder zurück geschossen. Aber an dieser Herausforderung wächst man und generiert und gewinnt aus der Sinnesfülle eben neuen Rohstoff, der die Gedankenbildung im Stil von mentalen Nahrungsergänzungsmitteln pusht.
Das Gebäude vom Scala kann nun genauso gut und im wahrsten Sinne als Arthouse benannt werden.
Wie entwickelt sich sowas weiter? Das fragte ich mich immer wieder zwischen den Programmen. Da stand ich vorm Zapfhahn der Popcornmaschine und plötzlich fiel es mir wie Maiskolben von den Augen:
Es vergrößert sein ideelles Volumen. Es sprengt auf: das Niederrhein Filmfestival löscht Ländergrenzen und setzt als Radius eben die Fläche, aus der die Filmemacher beider Länder (DEU & NL) stammen und wo sie wirken — unter der Flagge der Kopfweide, dem Logo des Festivals, vereint es diese. Wenn es in Zukunft eine Instanz werden wird, erweitert es sich obendrein als Ausdrucksmittel und sensibler Gradmesser für die soziokulturelle/gesellschaftliche Entwickling der gesamten Region (denn Filme sind verdichtetes Gegenwartsempfinden). Das wird spannend!
Ich betrachte das Niederrheinische Filmfestival als ein Geschenk an unsere Region. Und wenn es ab jetzt jährlich stattfinden sollte (…was ich doch sehr hoffe), dann werde ich mich jedes Jahr, schon lange im Voraus, auf dieses Geschenk freuen. Das ist dann damit quasi das Gegenteil der berüchtigt-gefürchteten weihnachtlichen Schenkerei von Herrensocken.
Ich hebe mir das Programmfaltblatt auf — das wird mal sehr wertvoll werden.
Wenn mich in 50 Jahren mal meine Enkel besuchen, um von mir neues Guthaben für ihre implantierten Gehirn-Mikroprozessoren zu erbetteln, damit sie den Hochchinesisch-Vokabeltest in der Schule bestehen, werde ich ihnen mal zeigen, wie das NFF anfing und dass ich hautnah dabei war.
Die werden mit ihren großen, viereckigen Augen nicht mehr aus dem Staunen kommen.
Autor:Timothy Kampmann aus Wesel |
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