Häusliche Gewalt, mein Versuch öffentlicher Bekanntmachung

Die Außengräfte an Burg Vischering, Lüdinghausen.
  • Die Außengräfte an Burg Vischering, Lüdinghausen.
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Die Geschichte einer Frau, die sich meine Mutter nannte, geht mir immer wieder durch den Kopf. Keine einfühlsame Geschichte. Wen so etwas belastet, der möge sich bitte nur das Bild anschauen und nicht weiterlesen. Ich möchte kein Sekundär-Trauma verursachen. So oft sitze ich da und schüttel nur den Kopf, mit Tränen in den Augen, wenn ich nur daran denke, alles so aufzuschreiben, damit alle davon lesen können. Damit auch die lesen können, die meiner Mutter davon erzählen könnten. Es ist wie ein Drang, schon länger, den ich jetzt befriedige. Mein outing. Ich konnte nie zur Polizei gehen und meine Mutter anzeigen. Ich konnte nie sagen, mein Name ist Uwe und meine Mutter hat so geschrien und geschlagen. Weil es so schlimm war, dass ich mehr als 20 Jahre lang einen völligen Erinnerungsverlust an alles schreckliche im Elternhaus hatte. Die Taten waren schon verjährt, als sie mir ins Gedächtnis zurück kamen. Und auch dann wusste ich noch lange nicht zweifelsfrei, ob das stimmt, was mir alles einfällt. Selbst jetzt, wo ich schreibe, ist mein Körper noch von Angstschweiß bedeckt und mir zittern die Hände, als könnte ich noch dafür geschlagen werden, die Mutter zu verraten.

Ritualisierte Gewalt, regelmäßig, für Nichtigkeiten. An den Haaren herbeigezogen. Für die Kirche. Um da einen guten Eindruck zu machen. Mein Bruder und ich wir waren als Jungendliche die Orgelspieler der Gemeinde. Meine Schwester kam ins Heim, weil sie für verdorben erklärt wurde. Die Mutter hat geschrien, wie ein wildes Tier, das Beute machen will. Livingstone schrieb mal, wie er auf seinen Forschungsreisen von einem Löwen angefallen wurde und in eine Art Wachkoma fiel, wie betäubt und gelähmt. So muss es gewesen sein. Die Mutter schrie wie ein Löwe. Wir mussten uns nackt ausziehen und sie hat uns im Bett der Eltern mit einem Gummischlauch geschlagen, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Wir waren da jeweils so etwa 9 Jahre alt. Ein Kind nach dem anderen kam an die Reihe.

Alle drei Kinder wurden Frührentner davon, Burnout, posttraumatische Belastungsstörung. Als die Ärzte mich als 30-jährigen pensionierten, war ich noch im Erinnerungsverlust der felsenfesten Überzeugung, ich hätte die besten Eltern der Welt gehabt. Danach kam nach und nach die Erinnerung zurück. Posttraumatische Belastungsstörung ist die verzögerte Reaktion auf besonders belastendes Erleben. Sagten sie so lapidar in den Nachrichten zur Traumatisierung von Soldaten im Auslandseinsatz. Die wenigsten wissen es. Was der Mensch nicht sofort verarbeiten kann, spaltet er ab und schleppt es mit sich, bis er es später wieder erinnern, nachträglich erleben und dann verarbeiten kann. Therapien dauern oft Jahre. Angst verhindert immer wieder neu die weitere Erinnerung.

Alles fällt mir auch noch nicht wieder ein. Was vorher war erzählte mir eine Tante. Als Dreijährigen hat die Mutter mich auf eine Decke gesetzt und ich musste wie auf Befehl mit Bauklötzen spielen. Wenn dabei ein Bauklotz gegen ihren Willen von der Decke auf den Teppich fiel, wurde die Mutter schon so wütend, dass sie geschlagen hat. Und sie hat mit Selbstmord gedroht. Wenn wir abends schliefen gerieten die Eltern manchmal in Streit, der eskalierte, bis die Mutter aufschrie, sie bringt sich jetzt um. Dann knallte sie die Wohnungstür hinter sich zu und schlief auf einer Couch auf dem Dachboden. Am anderen Morgen war alles wieder so, als wäre nichts geschehen. Wie konnte es auch anders sein. Ich weiß nur, dass ich als Kind nur kurz wie in einem Nebel aufwachte und kaum etwas mitbekam. So als wäre nebenan nur ein Fernseher zu laut gewesen. Mehr war da nicht. Nur später jahrelang erbärmliche Angst, meine Meinung so sagen. So als könnten alle nicht verkraften, wenn ich was von mir gebe, und sich deshalb umbringen.

Mehr zu schreiben bringt mir nicht mehr. Es sollte auch nur ein Artikel werden, und kein Buch. Dass die Mutter noch zur Kirche geht, als die Gute gilt, und sich negativ über ihre Kinder äußert, erübrigt sich fast zu erwähnen. Mein besonderer Dank gilt neben einigen Ärzten und Therapeuten vor allem auch mal der Politik. Unsere ehemalige Familienministerin, Frau Dr. Christine Bergmann, hat als unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmißbrauchs alle Fälle für die Bundesregierung gesammelt und auch mir einen sehr netten und persönlichen Brief zu meiner Geschichte geschrieben. So hat die Politik, wenn auch im Moment vielfach kritisiert, zumindest mir etwas Gutes getan und dafür gesorgt, mir das Gefühl zu geben, kein Ausgestoßener zu sein, sondern zur Gemeinschaft zu gehören. Dankbar bin ich auch allen LKlern, die mich durch ihre Beiträge ermutigt haben, hier und da schon mal in Kommentaren etwas von mir preiszugeben und nun einen eigenen Beitrag zu verfassen.

Wir ihr schon wisst habe ich meinen Halt von Kindheit an in der Natur bei der Vogelbeobachtung gefunden. Wenn euch meine Zeilen sprachlos machen, schreibt einfach was Nettes zu dem Bild, was ich zu diesem Beitrag einstelle. Und vergesst bei allen Schrecklichkeiten auf der Welt nicht den Satz, der meinem Bruder dazu einfiel: Es ist nie zu spät, um eine glückliche Kindheit nachzuholen.

Autor:

Uwe Norra aus Selm

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