Zeitzeugen geben denkwürdige Einblicke
Ein hartes Brot: Schule in Kriegs- und Nachkriegszeiten
„Wehret den Anfängen!“, „Kein Vergessen!“, „Nie wieder!“ Man kennt diese Mahnrufe, die in der Verarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Gräueltaten wurzeln, die aber leider auch heute wieder an Dringlichkeit zunehmen, ja, zunehmen müssen.
Noch eine ganz andere Qualität haben Appelle gegen Krieg, Verfolgung, Vernichtung, wenn man sie direkt aus dem Munde eines Zeitzeugen des Dritten Reichs vernimmt. Horst Heckmann, geboren 1928 in Mülheim, ist einer davon.
Langlebiges Altenprojekt am Gymnasium Heißen
Der Ur-Heißener, der sich selbst augenzwinkernd „zum alten Mülheimer Adel“ rechnet, da auch nahezu sämtliche Vorfahren aus der Stadt an der Ruhr stammten, hat am 4. Mai das Altenprojekt am Gymnasium Heißen mit einem Besuch beehrt. Die Kooperation zwischen der Schule und dem Pflegedienst Behmenburg bringt seit vielen Jahren engagierte Schülerinnen und Schüler mit interessierten Seniorinnen und Senioren aus dem Stadtteil zusammen, um den Kontakt und Austausch der Generationen zu fördern, wovon beide Seiten, Alt wie Jung, sichtlich profitieren.
An diesem frühsommerlichen Nachmittag ist Herr Heckmann der erste von zwei vortragenden Zeitzeugen im „Esszimmer“, der Cafeteria des Gymnasiums. Nach einer kurzen Eröffnung durch Svenja Ester, die als Sozialarbeiterin bei Pflege Behmenburg das Altenprojekt betreut, tritt zunächst Manfred Zabelberg ans Mikrofon, einer der ehrenamtlichen Vermittler Mülheimer Zeitzeugen, die wiederum in ein bundesweites Zeitzeugen-Netzwerk eingebunden sind. Zabelberg hebt die Eindringlichkeit der Schilderungen jener hervor, die die düsteren und düstersten Stunden der Geschichte selbst miterlebt haben. Zudem wirbt er dafür, Zeitzeugen direkt in die Klassenräume zu bringen, „das bereichert den Unterricht ungemein“.
Jung und Alt in regem Austausch
Herr Heckmann wie auch die anschließend berichtende Ursula Storks legen in ihren Vorträgen dann ihrerseits den Schwerpunkt auf die eigene Schulzeit – immerhin zählen heute zehn Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 5 bis 10 zum andächtig lauschenden Publikum. Der große Zuhörerkreis wird vervollständigt durch rund doppelt so viele Seniorinnen und Senioren, die das Berichtete teils selbst bezeugen können, sich mitunter durch Wortmeldungen einbringen oder anerkennend, verständig, oft auch betroffen nicken und zustimmen.
Das schöne Miteinander der Generationen wiederum zeigt sich schon daran, dass Jung und Alt gut durchmischt an Gruppentischen zusammensitzen und immer wieder den Austausch miteinander suchen. Überdies kümmert sich die jüngere Fraktion aufmerksam um das leibliche Wohl der älteren, schenkt Kaffee, Tee und Wasser ein oder bringt Kuchen an den Platz. Unterstützt werden die Jugendlichen von den Lehrerinnen Victoria Lubarski-Goldbeck und Britta Kleymann, die seitens der Schule das Altenprojekt begleiten.
"Das Grölen der SA-Leute"
Der 95-jährige Herr Heckmann legt nicht nur eine erstaunliche geistige Frische sowie ein außerordentliches Erinnerungsvermögen an den Tag, sein (ausformulierter) Vortrag offenbart auch sprachliche Gewandtheit und erzählerisches Talent. Leider aber ist es keine heitere Erzählung, der man als Zuhörer da folgt, nein, bestimmte Stellen lassen vielmehr schaudern und schlucken: der vorsätzlich durch die SA gelegte Brand der Synagoge am Viktoriaplatz 1938, dessen Zeuge der junge Heckmann auf dem Schulweg zufällig wird; die anschließenden „Plünderungen, Demütigungen, Gewalttaten“ gegen jüdische Menschen und ihre Geschäfte, das „Grölen der SA-Leute“, das er noch heute im Ohr hat, genau wie Hitlers berüchtigte Reichstagsrede vom 1. September 1939 („Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“), die über Lautsprecher auch am Mülheimer Rathausmarkt übertragen wird; die unzähligen Nächte im Luftschutzkeller („Dort haben wir dann meist unsere Schulaufgaben gemacht“); der gute Freund, der als Flakwaffenhelfer bei einem Luftangriff Nähe Eichbaum ums Leben kommt; der Umstand schließlich, dass Heckmann sein eigenes Leben nur einer Fußverletzung zu verdanken hat, wegen der er von der Front ins Feldlazarett abkommandiert wird. Umso bewegender sind die Schlussworte – Herr Heckmann, der seine „gesamte Jugend in einer Diktatur verbracht“ hat, mahnt eindringlich zur Wachsamkeit.
Ein "Koffer der Erinnerungen"
Während so ein bedrückendes Schlaglicht auf die Schulzeit im Krieg geworfen wurde, beleuchtet die zweite Zeitzeugin, die 1939 in Dümpten geborene Frau Storks, das Leben als Schülerin in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie wählt einen anderen Ansatz als ihr Vorredner, berichtet vollständig aus dem Stegreif, was nicht minder beeindruckend ist. Zudem hat sie einige Stücke aus ihrem „Koffer der Erinnerungen“ mitgebracht, darunter ihre alte Schulschreibtafel und einige Portionsbeutel mit verschiedenen Nahrungsmitteln, gemäß den damaligen Lebensmittelrationen. Die Schülerinnen und Schüler können kaum glauben, mit welch geringen Nahrungsmengen man unmittelbar nach Kriegsende hatte auskommen müssen.
Frau Storks Schilderung setzt auf bedrückende Weise 1943 ein, als sie nach der Rückkehr von einem Besuch bei ihrem bereits eingezogenen Vater (der bald darauf im Gefecht fallen sollte) am halb zerbombten Bahnhof Eppinghofen „zum ersten Mal tote Menschen gesehen“ hat.
Die Schule wiederum hat sie im Grunde gern besucht, „obwohl die Lehrer mir auch oft mit dem Stock in die Hand geschlagen haben. Die Jungen wurden noch deutlich härter gezüchtigt.“ Schon Herr Heckmann hatte dieses Thema angeschnitten, den anwesenden Schülerinnen und Schülern steht die Erleichterung, in einer gänzlich anderen Zeit zur Schule gehen zu dürfen, ins Gesicht geschrieben. Auf die damaligen Unterrichtsinhalte angesprochen, führt Frau Storks an, dass der Nationalsozialismus „einfach komplett ausgeblendet“ wurde, „als wäre nie etwas geschehen“. In ihren Kindheitserinnerungen spielen auch die Amerikaner eine große Rolle, die nicht nur „sehr lieb im Umgang mit uns Kindern“ waren, sondern auch die sogenannte Quäkerspeise mitbrachten, die zwar „gewöhnungsbedürftig war, aber was sollten wir machen?“ Schließlich war der Nahrungsmangel derart eklatant, „meine Mutter hat mir erzählt, ich hätte oft geweint vor Hunger“.
Bewegender Appell zur Wachsamkeit
Bei all den betrüblichen Mitteilungen aus der Vergangenheit findet Frau Storks dennoch auch Raum für Erheiterndes – wie etwa mit Beginn ihrer Ausbildung zur Stenografin „von einem auf den anderen Tag aus Ulrike Fräulein Schmidt“ (ihr Mädchenname) wurde, oder dass viele Jahre später ihr „cholerischer Chef trotz aller Gemeinheiten auf meiner Hochzeit zu Gast war.“
In Erinnerung aber werden den Zuhörenden, vor allem den jüngeren, unbedarfteren, gewiss stärker die erzählten Dinge bleiben, die so eindringlich zur Wachsamkeit mahnen.
Autor:Dennis Götzen aus Mülheim an der Ruhr |
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