Tod in der Drachenhöhle...

Es waren schöne Häuser, drei an der Zahl und noch gar nicht so alt, etwa 20 Jahre. Sechs Familien hatten hier in jedem Platz. Zwar passten die Wohnblöcke nicht so wirklich zu den schmucken alten Siedlungshäuschen, die wohl etwa in den 60-er Jahren entstanden waren, aber man konnte erkennen, dass der Architekt zumindest versucht hatte, sie in die Wohngegend zu intrigrieren. Diese grossen Häuser verfügten über ein wunderschönes grosses Grundstück, auf das der Besitzer einen kleinen Spielplatz für die in seinen Häusern lebenden Kinder errichten lies. Mehrere grosse Birken spendeten im Sommer Schatten, während sich die Kleinen austoben konnten und ihre Mütter sich auf den im Schatten stehenden Bänken unterhielten. Ja, sie verabredeten sich sogar. So brachte die eine Mutter Kaffee und Becher und eine andere Kuchen und eine weitere Getränke für die Kinder mit.

Es gab ebenso viele ältere Menschen, die hier wohnten, und das sogar bereits seit Erbauung der Blöcke. Dies liessen sie allerdings oft die neu einziehenden Paare mit oder ohne Kinder spüren. Alles konnten die Älteren besser, ob es die Art war, wie man eine Schneeschaufel zu führen oder den Besen zu schwingen hatte, oder aber auch wie die jungen Frauen ihre Wäsche auf ihren Leinen in den grossen geräumigen Waschräumen aufzuhängen hatten. Mit ihrer unlogischen Logik hatten sie bereits mehrfach erreicht, dass neue Mieter bald schnell wieder auszogen, weil sie diesen Krieg nicht mitmachen wollten.

Die alte Frau Griessheim aus der mittleren Etage auf der linken Seite, hatte diesbezüglich ein besonders loses Maulwerk. Ständig hatte sie etwas zu nörgeln und schrieb Briefe an den Vermieter, in denen sie sich beschwerte, dass der Sandkasten abends nicht abgedeckt würde, die Wäsche auf den Leinen nicht mit Klammern befestigt, sondern einfach nur übergeworfen sei, dass unter der Treppe Spielzeug der Kleinen deponiert würde usw. Sie war ein richtiger Drachen. Irgendwie sah sie auch Echsenartig aus. Man konnte bei ihrem Anblick jederzeit erwarten, dass Feuer aus ihrem giftigen Rachen sprühen würde. Was bildete sich diese alte Schachtel eigentlich ein? Einmal hatte Petra, die Mutter von den Zwillingen Till und Jens, sie dabei erwischt, wie sie in der Waschküche in der Wäsche der Familie rumschnüffelte. Als Petra den Waschraum betrat, hielt die alte Frigatte gerade einen von Petras Tangas in der Hand.

„Suchen sie was?“ fragte Petra höflich aber dennoch sehr energisch.

„Äääh, das lag im Hausflur“, versuchte der Drachen sich irritiert zu verteidigen. „Ich wollte es nur zu Ihrer Wäsche legen.“

„Sie lügen doch! Ich trage meine Wäsche immer in einem geschlossenen Korb nach unten und gehe anschliessend denselben Weg wieder nach oben, und da lag nichts auf der Treppe. Sie sind bösartig neugierig und eine verbale Dreckschleuder. Es wird Zeit, dass Ihnen mal jemand richtig die Meinung geigt. I C H werde mich diesmal beschweren, warten Sie´s nur ab! Gehen Sie zurück in Ihre Drachenhöhle und verschonen Sie mich, die Nachbarn und die Kinder mit Ihrem Monstercharme.“

Petra wendete sich um und begab sich wutschnaubend nach draussen: „Das ist doch nicht zu fassen, diese, diese, diese …… ach, was rege ich mich überhaupt auf?“

„Hi Pet, hast Du mit den Fingern in die Steckdose gegriffen?“ scherzte Linda, die gerade vom einkaufen kam. „Du explodierst ja gleich. Oder hat die Alte Dir wieder in die Suppe gespuckt?“

„Stell Dir vor, jetzt durchwühlt sie auch noch unsere Wäsche. Die hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Aber diesmal werde ich mir das nicht gefallen lassen.“ Petra schilderte einige Attacken des Hausdrachens.

„Meinst Du“, wollte Linda wissen, „dass sie auch hinter der Zettelattacke steckt, dass die Kinder hier nicht mehr auf der Wiese spielen sollen? Zutrauen würde ich es ihr ja, nach all dem, was Du mir erzählst. Und sie hat echt einen Tanga von Dir in der Hand gehabt? Hah, das ist ja krass.“

„Ja, sie wusste nichtmal, wie herum sie den halten sollte. Ich glaube schon, dass sie das mit den Zetteln auch war. Ach, guten Tag Frau Schneider,“ grüsste Petra die andere Nachbarin, die gerade an ihnen vorbei ging, um einen Sack mit Müll in den Mülltonnen zu entsorgen. „Wie geht es Ihrem Mann? Wenn Sie der Lärm der Kinder stört, sagen Sie uns doch bitte Bescheid, dann lassen wir den Lärmpegel herunterschrauben“.

„Nein, nein, um Himmels willen. Kinder müssen sich austoben, und mein Günter freut sich immer, wenn er am Nachmittag das lustige Treiben der Kleinen beobachten kann. Das muntert ihn auf und sie werfen ihm sogar bei offenem Fenster oft Bälle zu, die er dann zurück wirft. Das wird ihm nie zuviel.“

„Ach daher stammen die hässlichen Flecken an den Schieferplatten! Das werden Sie alle säubern müssen……!“ schrillte es aus dem Hintergrund.

„Nun halten Sie mal die Luft an, Frau Griessheim“, empörte sich Frau Schmitz. „Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Seien Sie froh, dass die Kinder alle gesund sind und…..“

„Papperlapapp! Das ist Sachbeschädigung, von der Lärmbelästigung und der Unordnung ganz zu schweigen. Zu meiner Zeit hätte es das……“

„Ja, ja, zu Ihrer Zeit sind Sie vermutlich mit einer Eisenkugel an den Fussgelenken tagsüber im Keller angekettet worden! Und wären Sie ein Jahrhundert früher geboren, hätte man sie vermutlich auf dem Scheiterhaufen abgefackelt.“

Frau Schmitz zwinkerte ihren beiden jüngeren Nachbarinnen vergnügt zu und genoss es offensichtlich, dass Frau Griessheim der Dampf bereits aus den Ohren raus zu puffen schien. Nachdem die Drachin wutschnaubend in ihre Wohnung gestapft war, beruhigten sich vor der Haustür die Gemüter langsam wieder. Die Frauen verabschiedeten sich mit einem netten „man sieht sich“ und wünschten sich noch einen guten Weg.

Die verbalen Auseinandersetzungen rissen nicht ab. So ging das Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat. Mittlerweile hatten sich noch andere Bewohner gegen diese alte Plageschachtel verschworen und wagten es, ihr mehr und mehr Contra zu geben. Selbst der Vermieter beachtete ihre zahlreichen Zettelchen, Briefe und wörtlichen Eingaben nicht mehr. Im Gegenteil, er hatte sie mittlerweile mehrfach aufgefordert, den nachbarlichen Frieden in seinen Wohnblocks nicht mehr zu stören. Nun erntete sie, was sie selbst gesät hatte: Unfrieden und Hass.

Das reichte nun der alten Frigatte anscheinend, seit ihr Woogen der Antipathie entgegen schlugen. Man sah sie auf einmal tagelang nicht mehr. Das erschien allen dann doch sehr merkwürdig. Also versuchte der Vermieter sie aufzusuchen. Er hatte mehrmals geklingelt, aber es rührte sich nichts. Er stellte nur fest, dass es im Hausflur merkwürdig roch, eher gesagt, es stank schon. Er klingelte erneut mehrfach und als immer noch nicht geöffnet wurde, verschaffte er sich mittels seines Generalschlüssels Zutritt zu Frau Griessheims Drachenhöhle. Beim Betreten wäre er fast umgefallen. Schnell hielt er sich ein Taschentuch vor den Mund und entdeckte sogleich auch den alten Drachen, aufgeknüpft an dem Knauf ihres Schlafzimmerfensters. Neben ihr auf dem Bett befand sich ein Briefumschlag, offensichtlich ein Abschiedsbrief. Dies zu klären, wollte er allerdings der Polizei überlassen, die er gleich von seinem Handy aus informierte. Er forderte die Mitbewohner, die sich im Hausflur versammelt hatten, auf, in ihre Wohnungen zu gehen oder so lange das Haus zu verlassen und die Kinder fern zu halten, bis alles geklärt sei.

Nachdem die Beamten eingetroffen waren und durch den mitgebrachten Arzt die Todesursache dokumentieren liessen, öffnete einer der Polizisten den Umschlag und las den Inhalt des Schreibens laut den Anwesenden vor.

Darin stand:

„Ich halte diese gesellschaftliche Zerrottung nicht mehr aus. Meinen Entschluss schreibe ich der antiautoritären Bevölkerung dieser Wohnblocks zu. Mit meinem Ableben werden hier sicherlich bald asoziale Verhältnisse herrschen und man wird mir noch lange nachtrauern……. Elisabeth Griessheim“

Sie hatte sich also selbst in ihren letzten Lebensminuten noch im Recht gefühlt. Welch eine Vermessenheit. Sie bekam eine einsame Beisetzung. Nur der Pfarrer, die Sargträger und der Herr vom Beerdigungsinstitut waren zugegen. Familie und Freunde hatte sie nicht. Woher auch….

Nach sechs Wochen war die Wohnung bereits, nachdem sie frisch renoviert war, wieder vermietet an ein junges Ehepaar mit einem Kind. Das Haus bekam erneut Leben, aber diesmal erfreuliches. Seitdem hatten alle Anwohner Ruhe und man vergnügte sich ohne Gepöbel auf dem Park ähnlichen Gelände. Man half sich gegenseitig bei den kleinsten Kleinigkeiten, feierte gemeinsam, brachte das Kinderspielzeug täglich unter die Treppe, schaufelte Schnee oder fegte die Gehwege so, wie man es für richtig hielt und warf seine Wäsche zum Trocknen, ohne sie mit Klammern zu befestigen, über die Wäscheleinen. Alle waren seither zufrieden und hatten das alte Lästermaul schon bald vergessen.

(c) Christiane Rühmann

Autor:

Christiane Rühmann aus Langenfeld (Rheinland)

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