Zweierlei Maß
Morgens um 11 Uhr im Foyer eines Einkaufszentrums. Der Alkohol, den man hier Prosecco oder Champagner nennt, fließt bereits in Strömen. Die hohen Stehtische sind dicht umlagert von elegant gekleideten Frauen und Männern, denen es nur schwerlich gelingt, ihr „Uns-geht-es-gut-Gehabe" unter Kontrolle zu halten. Aufgesetzte Fröhlichkeit und lautes Stimmengewirr sorgen dafür, dass ich mich mit Wortfetzen begnügen muss. Porsche, Sylt und Sushi sowie der Schwiegersohn, der seine eigene Praxis eröffnet hat, gehören wohl zu den Standardthemen.
Fast fluchtartig verlasse ich diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten und bahne mir in der Fußgängerzone einen Weg durch die Menschenmenge. Hier habe ich plötzlich sämtliche Leute lieb, und es stört mich auch nicht großartig, wenn mir alle zehn Meter irgendeine aufgeregte Mutter den Namen ihres weglaufenden Kindes in die Ohren brüllt. Hemd und eine vermeintlich dazu passende Krawatte sind schnell gekauft und es bleibt mir genügend Zeit, noch einmal bei Schick und Mick im Einkaufstempel vorbeizuschauen.
Dort ist die Schar der Frühtrinker unverändert groß, doch es ist lauter geworden. Ein Gemisch aus Arroganz und Tabakrauch wabert im Raum und es wird über Grappa- und Rotweinsorten diskutiert, wobei man es nicht bei der Theorie belässt. Natürlich hinterlassen auch die edelsten Getränke ihre Wirkung, so dass die anfängliche dezente Angeberei nun in peinliche Prahlerei ausartet.
Ich muss pünktlich zum Mittagessen zu Hause sein und wähle einen kleinen Park als Abkürzung zu meinem Auto. Auf einer Bank sitzen drei Männer in zerschlissener Kleidung und trinken Bier aus Dosen, auch macht eine Schnapsflasche die Runde. Ich stelle mir vor, wie einer dieser Prosecco-Experten im Vorbeigehen angewidert die Frage stellen könnte: „Wie kann man zu dieser Tageszeit schon Alkohol trinken?"
Autor:Klaus Ahlfänger aus Herten |
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