Wer ist wer?? Spitznamen
Im Laufe der Jahre hat sich unsere Siedlung zu einem Prominentenviertel gemausert. Gleich um die Ecke wohnt Gorbatschow und nur wenige Meter weiter terrorisiert Berti Vogts einmal mehr die Nachbarn mit seinem lärmenden Laubsauger. Schon von Ferne sehe ich den wallenden Haarschopf von Prinz Eisenherz, so dass mir noch die Flucht in die nächste Querstraße möglich ist. Hier laufe ich jedoch Inge Meysel in die Arme und bin wehrlos deren Geschwätzigkeit ausgeliefert. Während sie mich mit ihren langweiligen Enkelgeschichten zutextet, denke ich mit Wehmut an die Zeit zurück, als Pan Tau noch im Nachbarhaus wohnte. Er trug stets einen dunklen Anzug mit einem weißen Einstecktuch und auch der schwarze Stockschirm fehlte selbst an wolkenlosen Tagen nicht. Beim Grüßen zog der freundliche ältere Herr formvollendet seinen Hut und sein schlohweißes Haar erhärtete den Verdacht, dass es sich bei ihm tatsächlich um die Hauptfigur aus der tschechischen Fernsehserie handele.
Gar leicht hatten wir es mit der Namensvergabe, als gegenüber ein etwa sechzigjähriger Mann mit auffällig abstehenden Ohren einzog. Meine Frau und ich erhoben ihn spontan in den Adelsstand und mittlerweile gehört Prinz Charles zu den angenehmen Gesprächspartnern, für die ich gerne eine Pause auf meinen täglichen Spaziergängen einlege.
Auch nach Jahren kenne ich nicht seinen wirklichen Namen, muss mich also - wie in all den anderen Fällen - mit einem Spitznamen behelfen, wenn ich abends über Geschehnisse in unserer Siedlung berichten will. Umständliche und zeitaufwendige Personenbeschreibungen erübrigen sich somit. Die Anonymisierung ging mit dem Verschwinden der Tante-Emma-Läden einher. Dort wurden die Kunden noch mit Frau Weber oder Herr Müller angesprochen, und so erfuhren die Wartenden, wer wer war, ohne dass man sich einander vorstellen musste. Auch kannten sich die Bewohner eines Viertels von ihrer gemeinsamen Arbeitsstätte und in der Regel hatte man acht Jahre lang dieselbe Volksschule besucht.
Oftmals kenne ich zwar die Namen der Enkelkinder und der Hunde, doch wie meine Nachbarn tatsächlich heißen, werde ich wohl nie erfahren. So haben wir in unserer Siedlung das Rad der Geschichte zurückgedreht, indem wir - wie vor Jahrhunderten üblich — uns bei der Namensgebung von Eigenschaften und Äußerlichkeiten leiten lassen.
So stehe ich morgens besorgt vor dem Spiegel und frage mich, unter welchem Spitznamen ich wohl in unserem Viertel bekannt bin.
Autor:Klaus Ahlfänger aus Herten |
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