Lydia und der Farbwechsel
Seit seinem Auszug waren annähernd vier Monate vergangen. In den nüchtern eingerichteten Räumen deuteten jetzt nur noch wenige Dinge auf den Menschen hin, mit dem Lydia in einer immerhin drei Jahre währenden Gemeinschaft gelebt hatte. Höhen und Tiefen hatte es gegeben, Streit und Versöhnung, man grollte und schmollte, spielte wechselseitig die Rolle des Beleidigten, ganz so, als bestehe gegenüber dem Gesetzgeber die Verpflichtung, sich absolut eheähnlich zu verhalten.
In den ersten Wochen nach der Trennung war Lydia noch um Geheimhaltung bemüht. So nahm sie denn auch an dem gemeinsam mit Georg gesprochenen Text des Anrufbeantworters keine Änderung vor. Sie wusste natürlich, dass sie ihre neue Lebenssituation nicht lange verbergen konnte. Freunde und Bekannte schienen ohnehin bereits auf dem Laufenden zu sein, denn Georg - übrigens ein Gewohnheitstier - würde seine neue Flamme genau an die Orte ausführen, an denen er auch mit Lydia oft die Abende verbrachte.
Ihre Lieblings-Pizzeria wollte sich Lydia auf keinen Fall nehmen lassen. Um ihr Revier abzustecken, machte sie sich bereits am dritten Tag ihres Single-Daseins zum Ristorante d’Angelo auf, betrat es mit aufgesetzter Selbstsicherheit und steuerte auf den einzigen freien Tisch zu. Erst beim Hinsetzen bemerkte sie das dort aufgestellte Reservierungs-Schild. Gerade als sie sichtlich enttäuscht wieder aufstehen wollte, eilte Angelo an den Tisch und rief ihr in südländischer Lautstärke zu: "Signora Lydia, che gioia, bitte sitzen bleiben, ist richtiger Tisch, hat Signor Georgio reserviert, hat gesagt für zwei Personen" Die Peinlichkeit der Situation nicht ahnend, hängte er noch die Frage an: "Kommt Signor Georgio später, möchte Signora schon mal einen Sambuca vorweg, come sempre?"
Lydia entgegnete geistesgegenwärtig: "Nein, jetzt noch nicht, sicherlich sucht er draußen nach einem freien Parkplatz, ich schau mal eben nach, bin gleich wieder zurück" Hastig entfernte sich Lydia aus dem Lokal, währenddessen Angelo noch über den rasanten Farbwechsel in Lydias Gesicht nachgrübelte. Er war sich sicher, die drei italienischen Nationalfarben gesehen zu haben, lediglich das Grün schien ihm im nachhinein ein wenig zu schwach ausgefallen zu sein.
Schon beim Herausgehen hatte sie das alberne Kichern gehört, welches für Neuverliebte so typisch ist. Obwohl es Ihr noch möglich gewesen wäre, dem glücklichen Paar unbemerkt auszuweichen, zog Lydia die Offensiv-Taktik vor. Sicherlich würde die unerwartete, plötzliche Begegnung mit ihr sich nicht förderlich auf Signor Giorgios Stimmung auswirken.
Sie nahm sich also zusammen und rief Georg ein kurzes "Hallo" zu, welches dieser - sichtlich verdattert - mit einem stotternd vorgetragenem förmlichen "Guten Abend" erwiderte. Lydia glaubte noch die an Georg gerichtete Frage zu hören: "Wer war das gerade"? Dann hatte der Spuk ein Ende.
Auf dem Nachhauseweg versuchte sie sich vorzustellen, wie Angelo wohl reagiert haben mag, als Georg wenige Minuten später in Begleitung einer neuen Signorina auftauchte. Fast hätte Lydia gelächelt, wenn ihr nicht noch rechtzeitig bewusst geworden wäre, dass sie an diesem Abend und in diesem Stück den peinlicheren Part gespielt hatte.
Autor:Klaus Ahlfänger aus Herten |
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