Elternreihe: Kinder brauchen Grenzen

Jörg Winterscheid: Kinder brauchen Grenzen. Foto: Pielorz
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Im familiären Alltag erscheint das kindliche Verhalten oft wie ein Buch mit sieben Siegeln. Häufig stellen sich Eltern die Frage „Warum machst du das (oder auch nicht)?“. Der Hattinger Erzieher und Heilpädagoge Jörg Winterscheid erklärt in einem Vortrag zu kindlichen Grenzen, Regeln und täglichen Konflikten den ganz normalen Wahnsinn.

Bis ich Vater/Mutter wurde, konnte ich in der Illusion leben, ein netter Mensch zu sein: Mit diesem Spruch startet Winterscheid seinen Vortrag. Ein zweiter Spruch kommt gleich danach: Wir können den Wind nicht ändern, jedoch versuchen, die Segel richtig zu setzen. Der Wind wird dabei als Symbol für das Kind, ja sogar für das menschliche Wesen im Allgemeinen, verstanden. Das richtige Setzen der Segel, also das richtige Verhalten, ist abhängig von dem Kurs, also von der Methode, von dem „wie“. Und das ist die Frage: Wie setze ich einen richtigen Kurs?
Neun Jahre arbeitete Winterscheid an dem Buch „Fit for kids - Der Elterntrainer“ (Edition Paashaas Verlag 2012) und präzisierte dort sein Schiffs-Modell, mit dem er aufzeigt, wohin die Reise gehen kann. „Wenn wir an familiäres Zusammenleben denken, so denken wir in der Regel an Harmonie und Wärme. So lange wir mit den Kindern einer Meinung sind, haben wir das auch. Was aber passiert, wenn die Kinder anderer Meinung sind als ihre Eltern? Das Kind will beispielsweise ein Eis essen, die Mutter will, dass es die Kartoffeln isst. Was geschieht? Ein Bedürfniskonflikt entsteht welcher im Widerspruch zur gewünschten Harmonie zu stehen scheint und oft negativ empfunden wird. Und genau hier beginnt Erziehung. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass Reibung Wärme erzeugt und Wärme landläufig mit Liebe und Harmonie umschrieben wird. „Ohne Reibung, keine Wärme – ohne Bedürfniskonflikt keine Liebe!?“ Eltern müssen sich als Kapitän und 1. Offizier liebevoll positionieren, sich als Reibungspartner anbieten und auf der Grundlage einer wertschätzenden Grundhaltung entscheiden, ob sie sich hier als Autorität durchsetzen oder als Partner eine Kompromisslösung verhandeln wollen. Hierbei spielen auch Regel- und Grenzsetzung eine wichtige Rolle, damit eine Sicherheit gebende Orientierung auf dem (Familien-) Schiff vorhanden ist.
Um aber Regeln und Grenzsetzung verstehen zu können, muss sich der Erwachsene mit seinem eigenen Verhalten auseinandersetzen. „Nehmen wir den Straßenverkehr. Halten Sie sich immer an die erlaubte Geschwindigkeit oder nutzen Sie nicht den gegebenen Toleranzrahmen vollkommen aus?“ Die meisten Verkehrsteilnehmer werden dies bejahen. Dabei nutzen sie den Geschwindigkeitsrahmen aber nur bis zu einer bestimmten Grenze aus. Strafe zahlen ja (wenn man erwischt wird), aber den Führerschein behalten will man auf jeden Fall (also nicht zu schnell unterwegs sein).
„So vollzieht sich auch der Alltag in der Erziehung. Das Kind nutzt entsprechende Toleranzgrenzen aus, die aber in seinem Verhalten in Abhängigkeit zum Lebensalter und zur Lebenserfahrung stehen. Wie groß der Toleranzrahmen ist, das bestimmen Sie!!! Wenn Sie beispielsweise in der Regel zehn Ermahnungen geben, dann weiß das Kind das irgendwann. Warum sollte es bereits bei der sechsten Ermahnung reagieren? Es weiß ja, da kommen noch welche. Machen Sie besser eine Ansage mit zwei Ermahnungen und beim dritten Mal stehen Konsequenzen an. Diese sollten vorher bekannt sein. Hierbei ist zu berücksichtigen dass ein klares Regelgerüst, mit deutlich formulierten Konsequenzen, welche angemessen überprüft werden, hilfreich ist um eine Sicherheit vermittelnde Umgebung zu schaffen.“

Der Mensch ist egoman

Es sei, so Winterscheid, völlig natürlich, sich nicht an gegebene Regeln zu halten. „Nehmen Sie ihr eigenes Leben! Wie oft haben Sie Regeln überschritten? Warum sollte das Kind es anders machen? Wenn Sie ein bestimmtes Verhalten von Ihrem Kind erwarten, dann formulieren Sie das auch. Wenn es sein Zimmer aufräumen soll, dann sagen Sie das als Aufforderung ,Räum dein Zimmer auf‘ und formulieren es nicht als Frage ,Räumst du dein Zimmer auf‘ – in diesem Fall müssen Sie sich nämlich nicht wundern, wenn Ihr Kind Nein sagt. Schließlich will es lieber spielen als aufräumen. Anderes Beispiel: Ziehst Du deine Schuhe an (mögliche Antwort: Nee, keinen Bock) – oder Zieh deine Schuhe an (klare Aufforderung, es zu tun). Wenn es nach der Aufforderung nicht aufräumt oder die Schuhe anzieht, dann gibt es zwei Ermahnungen und dann eine Konsequenz – die Sie sich vorher überlegt haben sollten, die überprüfbar und durchführbar ist. Sie können das dann – je nach Alter des Kindes – gern erklären, aber konsequent sollten Sie sein. Und drohen Sie nicht mit irgendetwas, was Sie nicht machen werden oder nicht überprüfen können. Kinder merken das ziemlich schnell. Autorität hat nichts mit autoritär zu tun. Ihre Autorität in Verbindung mit einem konsequenten Verhalten hilft Ihrem Kind zu verstehen, dass menschliches Zusammenleben nur mit Regeln und Grenzen funktionieren kann. Sie entscheiden in Millisekunden im Alltag, ob in einer Situation mit Ihrem Kind eine Aufforderung mit Konsequenzen situationsangemessen ist oder ob es einen Verhandlungsspielraum gibt. Im zweiten Fall können Sie mit Ihrem Kind diskutieren und einen Kompromiss erzielen. Gehen Sie davon aus: Der Mensch ist ein Egomane. Er will seine Bedürfnisse durchsetzen. Das wollen Sie – das will Ihr Kind. Und es ist zunächst völlig normal.“
Und noch etwas ist Winterscheid wichtig: „In dem Moment, wo Sie eine Konsequenz anwenden, seien Sie sich sicher: Es gibt Ärger. Denn Ihr Kind wird nicht einfach sagen: Ja, Du hast ja gesagt, das ist die Konsequenz und ich verstehe das. Nein, es versteht es nicht und ist sauer. Auch das ist der ganz normale Wahnsinn in der Erziehung.“
Und der in der Erziehung fallende Satz „Ich hasse Dich“ erklärt Winterscheid so: „Ihr Kind hasst nicht Sie, sondern die Macht, die Sie in dem Moment haben, um seinen Wunsch nicht durchzusetzen. Das ist etwas völlig anderes.“

Natürlich spielt die Vorbildrolle der Eltern eine große Bedeutung. Diese haben die Aufgabe, einen liebevollen, wertschätzenden und konsequenten Rahmen für Erziehung und somit Entwicklung zu schaffen. Und: Jede Regel, die aufgestellt wird, ist nur so gut, wie sie überprüfbar ist und auch wird!

Und falls es doch mal richtig schwierig wird? „Dann holt euch einen Lotsen an Bord. Das geschieht auf einem (Familien-)Schiff oft genug!“

Kontakt: Jörg Winterscheid, Heilpädagogische Ambulanz, Zum Ludwigstal 27, 45527 Hattingen; Telefon 02324/38806; E-Mail: info@winterscheid. com; www.winterscheid.com

Die Elternreihe wird am Mittwoch, 12. September, fortgesetzt. 

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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