Online-Gespräch mit der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch am Gymnasium Werden
Zeitzeugin gibt Auskunft
Sie bewegt sich und spricht, sitzt ruhig vor ihren Zuhörern, erzählt davon, wie sie 1943 im Mädchenorchester des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau als Cellistin musizierte und nur deshalb als Häftling überlebte.
Sie antwortet meist direkt auf alle Fragen, und dies auch noch recht präzise – offensichtlich reagiert sie problemlos und ohne große akustische Beeinträchtigungen auf die Stimmen des Geschichte-Grundkurses der Stufe 12 und ihrer Lehrerin Lisa Kalb, die das Projekt am Werdener Gymnasium initiierte. Die 95-jährige Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch hört sich geduldig alles an und antwortet auf das rege Interesse der Jugendlichen. Mittlerweile fast „normaler“ Alltag der noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Auskunft geben über ihr Schicksal – wäre hier nicht der besondere Umstand, dass es sich gar nicht um ein „live“ stattfindendes Zeitzeugengespräch von Angesicht zu Angesicht handelt.
Geschichte verstehen
Lehrerin Kalb erläutert das besondere Projekt: „Seit mehr als 70 Jahren teilen Holocaust-Überlebende ihre Geschichten mit Menschen auf der ganzen Welt. Diese Zeugnisse vermitteln wichtige Erkenntnisse, zeigen individuelle Perspektiven auf und prägen unser Verständnis von Geschichte. Das interaktive Format Dimensions in Testimony ermöglicht es, mit vorab aufgezeichneten Interviews von Überlebenden, in eine Frage-Antwort-Interaktion zu treten – dabei wird die Aussage der Überlebenden erst dann aktiviert, wenn zuvor eine Frage gestellt wurde“.
Und diese Fragen waren innerhalb des rund anderthalbstündigen Projekts laut Projektleiterin Sanna Stegmaier zahlreich – es wurden über 500 Fragen von den 19 angehenden Abiturientinnen und Abiturienten gestellt. Diese waren sehr beeindruckt von der Interaktion, so auch Tom Ross: „Dieses Projekt erscheint mir mehr als wichtig, da Personen, die sich für Geschichte interessieren, sich mit einem Zeitzeugen individuell auseinandersetzen können, statt einen Informationstext über die damalige Zeit zu lesen. Besonders gefallen hat mir, dass eine Vielfalt von Fragen beantwortet wurde und man keine Scheu haben musste, diese zu stellen, da man auf sich gestellt war und nicht mit 25 Schülern in einem Klassenraum saß“.
Über Menschenrechte nachdenken
Ein Ziel dieser interaktiven Zeitzeugnisse von Holocaust-Überlebenden und anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von Genoziden ist es, auch zukünftige Generationen zu erreichen. Schüler Florian Kiessling betont in diesem Zusammenhang ebenfalls: „Da die Zeitzeugen wahrscheinlich nicht mehr lange unter uns sein werden, sollen Originalaussagen auch noch nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen und hierfür ist dieses Projekt einfach nur ideal! Die dialogähnliche Interaktion lässt fast vergessen, dass man in einen Computer spricht und ist nicht vergleichbar mit Schulbüchern oder Filmen, welche oft mehr berieselnd wirken als Verständnis erweckend.“ Letzterem Punkt stimmt auch Lehrerin Kalb zu: „Gerade was die Geschichte und die Folgen des Holocaust angeht, so ist es insbesondere in heutigen Zeiten von Bedeutung, die Jugendlichen auf einer affektiven Ebene abzuholen und somit auf persönlich-emotionaler anzusprechen.
"Besonders gefallen hat mir, dass eine
Vielfalt von Fragen beantwortet wurde
und man keine Scheu haben musste, diese zu stellen."
Schüler Tom Ross
Durch den Austausch mit einer Überlebenden wie Lasker-Wallfisch werden nachhaltige Gedanken über Antisemitismus und den Umgang mit Menschenrechten freigesetzt. Das Projekt erlaubt es außerdem in Zeiten von Corona und spontaner Umstellung auf Distanzunterricht, das Zeitzeugnis von Zuhause aus gewinnbringend durchzuführen.“ Die Abiturientin Helen Berges wünscht sich, dass das Projekt weiterhin zur Aufklärung über den Holocaust beiträgt und dabei offenlegt, „welches Grauen dieser mit sich brachte“ und „so auch eine Wiederholung solcher Schrecken verhindert wird“. Ein Anliegen, das den ganzen Kurs bewegt – insbesondere vor dem Hintergrund des coronabedingten vorläufigen Ausfalls der alljährlichen Studienfahrt nach Auschwitz im Januar.
Interaktives Projekt
Dimensions in Testimony ist das weltweit erste Projekt, das eine Interaktion mit Videobiografien von Überlebenden des Holocaust ermöglicht. Anita Lasker-Wallfisch wurde bereits 2015 auf Englisch für das Programm befragt. Ihr im März 2019 in London aufgezeichnetes Interview ist das erste deutschsprachige interaktive Zeitzeugnis.
Autor:Lokalkompass Essen-Werden aus Essen-Werden |
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