Libanesische Frauen reden Klartext

Gesellige Runde im Förderturmhaus: Jeden Dienstagvormittag treffen sich die libanesischen Frauen auf dem Gelände der Zeche Carl. Betreut wird sie von Andrea Dietz (links).
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Die Republik diskutiert angeregt über die „Lebenswelten junger Muslime“, zum Jahresbeginn fragte der WDR 5 nach der Existenz einer libanesischen Parallelgesellschaft in Altenessen. Ivan Gersic vom Integrationsmanagement des Jugendamtes will nicht bestreiten, dass es in der Vergangenheit Isolationstendenzen gegeben hat. „Aber die Bereitschaft, sich zu öffnen, wird immer größer“, weiß er aus Erfahrung zu berichten. Bestes Beispiel ist die libanesische Frauengruppe auf Carl.

Die libanesischen Frauen empfangen ihre Gäste im Förderturmhaus auf dem Gelände der Zeche Carl - und das überaus höflich und zuvorkommend. Man könnte beinahe meinen, bei dem Treffen handele es sich um ein Kaffeekränzchen braver Hausmütterchen. Doch die Damen, sie können auch Klartext reden. Verständlich: Viel wurde über die libanesische Gemeinschaft in und um Altenessen geschrieben, selten aber kamen die Betroffenen zu Wort.

Über die Diskussionen und Berichte der letzten Monate können die Frauen nur den Kopf schütteln. Zu sehr sei der Eindruck entstanden, man habe die Jugend nicht mehr im Griff; schlimmer noch, man lege gar keinen Wert auf die Erziehung des eigenen Nachwuchses. „Aber eine Mutter lässt ihre Kinder nie allein“, widerspricht Teilnehmerin Chadia Al-Kadi.

Sicher, für die gröbsten Negativschlagzeilen habe die libanesische Community schon selbst gesorgt. Es sei nur an die Schlägerei auf der Altenessener Frühlingskirmes vor einem Jahr erinnert. „Aber glauben Sie, wir finden das gut?“, wirft Kausar Darwiche ein. Im vergangenen Herbst beaufsichtigte sie, zusammen mit anderen Müttern aus der Frauengruppe, das Stadtteilfest. Ihrer deeskalierenden Präsenz ist es mitunter zu verdanken, dass die Krawalle vom Frühjahr keine Neuauflage fanden - so bezeugen es verschiedene Handlungsträger aus dem Bereich des „Aktionsbündnisses sicheres Altenessen“ übereinstimmend.

Sie löschen nicht nur „Brandherde“

Doch die Damen zieht es nicht nur dorthin, wo es brennt bzw. brennen könnte. Sie gehen gezielt die Öffentlichkeit, veranstalten Grillfeste auf Carl und empfangen Gäste aus Bremen, die sich ein Bild vom Essener Integrationsmodell verschaffen möchten. Denn die Freie Hansestadt zählt, neben Berlin und Essen, zu den „libanesischen Hochburgen“ Deutschlands.

Auch den Kontakt mit dem Jugendamt habe die Gruppe von sich aus gesucht: „Die Frauen haben sich eine professionelle Betreuung gewünscht“, berichtet Andrea Dietz. Die Gruppenleiterin begleitet den wöchentlichen Frauentreff seit anderthalb Jahren und organisiert Themenvormittage. Mal werden ganz alltägliche Fragen behandelt: Welche Behördengänge sind zu erledigen? Wie unterstütze ich Kinder bei Schulproblemen? Wie halte ich den Energieverbrauch in der Wohnung niedrig?

Aber auch harte Themen, wie häusliche Gewalt oder Jugendkriminalität, kommen zur Aussprache - denn die Frauen aus dem Förderturmhaus sollen als Multiplikatoren fungieren und Aufklärungsarbeit in der libanesischen Gemeinschaft leisten. Auch wenn die Bereitschaft zur Öffnung vorhanden ist, schafft es nicht jede Frau in den Dienstagstreff. „Wir würden uns gerne verstärken“, betont Chadia Al-Kadi.
Vor allem für Ältere sei es schwierig, aus dem traditionell strukturierten Alltag auszubrechen, auch könnten Mütter aus Großfamilien nur schwer die Zeit für den Besuch eines wöchentlich stattfindenden Angebotes aufbringen.

Fadia Semmo nimmt sich diese Zeit ganz bewusst, die Frauenrunde ist für die siebenfache Mutter die Gelegenheit, sich Probleme von der Seele zu reden. Ihr Ehemann war nach der Flucht vor dem Bürgerkrieg im Libanon lange Zeit staatenlos, erst später beantragte er einen libanesischen Pass. Ein Amtsakt, mit weitreichenden Folgen für die Familie: Die Gnade der Spätgeborenen ermöglicht es vier Kindern, im weitesten Sinne „störungsfrei“ aufzuwachsen. Die drei ältesten Sprösslinge sind allerdings darauf angewiesen, dass das Ausländeramt ihre Fiktionsbescheinigungen regelmäßig erneuert. Diese gestatten den vorübergehenden Aufenthalt, bis über das endgültige Bleiberecht entschieden wurde.

„Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn sie zur Schule gehen, aber nicht wissen, ob sie danach noch hier bleiben dürfen“, versucht Fadia Semmo Verständnis für die Antriebslosigkeit vieler libanesischer Jugendlicher aufzubringen.

Die Tochter von Chadia Al-Kadi wurde von ihrer Vorgesetzten für die Filialleitung eines Supermarktes vorgeschlagen, lehnte aber, mit der Unsicherheit im Nacken, ab. Nahezu jede Teilnehmerin kann eine ähnliche Geschichte erzählen; von Kindern, die sich bis zum Gymnasium, zur Abend- oder Wirtschaftsschule durchbissen, um auf der Zielgeraden alles infragezustellen. Und doch sind es „zermürbende Einzelfälle“, wie Ivan Gersic betont. Der Frauentreff bedeutet demnach nicht nur Abwechselung und Wissensvermittlung, er ist auch ein Schritt zur Selbsthilfe. Kurzum: „Er ist ein wichtiger Teil von unserem Leben“, sagt Chadia Al-Kadi.

Autor:

Patrick Torma aus Essen-Nord

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