Am Ball vorbei (9. Juni): Lord Helmchen und der Tag der offenen Tür

Na, das war ja mal ein würdiger Auftakt zur Euro 2012: Das Eröffnungsspiel zwischen Polen und Griechenland (1:1) war, über die volle Distanz betrachtet, keine hochklassige Partie, bot aber einen packenden Spielverlauf, die russische Rentner-Band (Durchschnittsalter bei Spielanpfiff: 30,5 Jahre!) bewies, dass sie es noch draufhat – gegen einen dankbaren Sparringspartner aus Tschechien wohlgemerkt (4:1).

In diesen Paarungen wurde deutlich: Hier spielt tatsächlich Europas zweite Geige, und dabei bettelten noch einige Protagonisten förmlich um eine Versetzung an die Triangel. Was die griechische Defensive beispielsweise in den ersten 45 Minuten anbot, schreit nach einem Stabilitätspakt. Oder hatten etwa die Polen per einstweilige Verfügung eine Abstandhalteplicht erwirkt? Die Helenen standen immer zwei, drei Meter von ihren Gegenspieler entfernt; ihre linke Seite war im direkten Duell gegen Jakub Blaszczykowski und Lukasz Piszczekzudem überfordert (Jose Holebas) bzw. fehlbesetzt (mit dem langsamen Giorgos Samaras, der bei Celtic Glasgow eher in der Zentrale als hängende Spitze gefragt ist).

Umso bezeichnender ist es, dass die Polen aus der griechischen Orientierungslosigkeit kein Kapital in Form ihres ersten EM-Dreiers schlagen konnten. Warum sie das Spiel aus der Hand gegeben haben? Mit seinem völlig überzogenen Platzverweis gegen den Bremer Sokratis erzeugte Carlos Velasco eine hellenische Trotzreaktion, der Unparteiische kann froh sein, dass ihm das Spiel nicht entglitten ist. Aber das allein war es nicht: Hatte der Europameister von 2004 in der ersten Hälfte nach vorne überhaupt nichts auf die Kette gekriegt, reichten ihnen zwei, drei einfache Bälle, um die polnische Innenverteidigung auszuhebeln. Leidtragender war Schlussmann Wojciech Szczesny, der quasi in die Kabine gezwungen wurde.

Die Tschechen luden die russische Ausmannschaft gleich ganz zum Tag der offenen Tür ein. Die ballorientierte Verteidigung funktionierte vorne und hinten (die Betonung liegt auf hinten) nicht, die tschechischen Abwehrspieler rissen sich reihenweise selbst die Lücken im Defensivverbund auf. Zugegeben: Diese Pässe in die Nahtstellen, wie sie die Mannschaft von Dick Advocaat gespielt hat, müssen erst mal geschlagen werden. Hochachtung vor dieser Ballbehandlung. Aber: Sie ließ auch einige Hochkaräter liegen. Was diese Demonstration von gestern Abend wert ist, zeigt sich erst im Belastungstest gegen einen stärkeren Gegner. Denn die tschechische Auswahl konnte zwar nur phasenweise (jeweils in den ersten fünfzehn Minuten der beiden Halbzeiten) überzeugen, der Beobachter allerdings ahnt, dass auch die Hintermannschaft der Sbornaja, unter Druck, luftig wie Russischbrot sein kann.

Aus deutscher Sicht sind die Ereignisse von gestern Abend interessant, schließlich gab es schon zum Auftakt einen möglichen Viertelfinalgegner zu sehen. Die Analyse ging aber etwas unter – weil DFB-Co-Trainer Hansi Flick seiner Mannschaft bildlich die Stahlhelme aufsetzte. Die deutsche Presse schoss empört zurück.

Bei großen Turnieren wird die Nationalelf unweigerlich mit Kriegsmetaphorik bedacht, seien es nun deutsche Panzer, die die englische yellow press gerne aufziehen sieht, oder die Enthauptung unseres Capitanos vor vier Jahren durch den polnischen Boulevard. Aber wehe, es zieht was im eigenen Lager auf. Sicher, eine solche Äußerung auf einer Pressekonferenz in Danzig, wenige Tage nach einem Besuch der KZ-Gedenkstätte in Auschwitz, ist äußerst unglücklich. Am Pult saß aber kein selbstdarstellerischer Säbelrassler, sondern ein biederer Hansi Flick, dem die Scham ins Gesicht geschrieben steht, just in dem Moment, in dem ihm die verhängnisvollen Worte entfleuchten. Da steckte keine beleidigende Intention hinter, die Entschuldigung folgte prompt. Sache erledigt. Folgenschwerer waren da die Äußerungen der nachfolgenden Kollegen:

Giovanni Trappatoni (2005, VfB Stuttgart): Die berühmte Wutrede des Maestros als Trainer des FC Hollywood wurde als herrlich sympathisch empfunden. Nach der Niederlage gegen Zweitligist Hansa Rostock jedoch zog er sich den Zorn eines gesamten Berufstandes auf sich. „Wenn ich mit dem Druck nicht fertig werden würde, wäre ich Lokführer geworden“, antwortete der Trainerfuchs, der sich während seiner dritten Amtszeit in Deutschland überwiegend dolmetschen ließ. „Damit Herr Trapattoni den Berufsalltag eines Lokführers näher kennen lernen kann, wird die GDL ihn dazu einladen, einen Lokführer einen Tag lang bei der Arbeit zu begleiten“, antwortete Manfred Schell, Vorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Keine vier Monate später war Trappatoni in Stuttgart Geschichte. Mit welchem Transportmittel er die Stadt verließ, ist nicht überliefert.

Michael Henke (2005, Kaiserlautern): Trappatonis Zugführer-Spitze stand jedoch im Schatten eines Kollegen, der gleich einer ganzen Region auf den Schlips trat. Als Michael Henke mal nicht als Assi von Ottmar Hitzfeld wandelte, musste er als Cheftrainer der roten Teufel in Erfurt ran. Wie man sich vorstellen kann, kommen dort Sprachregelungen wie „Scheiß-Ossi“ oder „Ossi-Pack“ weniger gut an. Henke jedoch schienen die blühenden Landschaften egal. Die Quittung erfolgte in Form einer 10.000 Euro-Geldstrafe und reichlich Negativpresse. Auch wenn sich manche Redaktion, die heute gegen den Soli hetzt, damals diebisch gefreut haben dürfte.

Jürgen Press (2007, Ingolstadt): Keine Frage, Fans nehmen sich manchmal etwas zu viel raus. Jürgen Press machte seinem Ärger über die Mäkelei des eigenen Anhangs nach einem Heimspiel erfrischend ehrlich Luft: „Wir hatten heute Zuschauer, aber keine Fans.“ Und: So macht’s hier in Ingolstadt, in diesem Scheiß-Stadion, überhaupt keinen Spaß.“ Nur kommt Manöverkritik an den eigenen Fans selten gut an. Kurz nach dem Vorfall gab es vom Verein eine Abmahnung, im Januar 2008 war Press nicht mehr zu halten.

Diego Maradona (2009, Argentinien): Journalisten haben es nicht leicht: Als Leidensgenosse fühle ich mit SWR-Seuchenvögeln (Jürgen Klopp) oder niederknieenden Bratwürsten (Ernst Middendorp) mit. Manchmal ist der Frust der Trainer aber auch verständlich. Man kann es aber auch übertreiben, so wie Diego Maradona. Gerade die WM-Quali mit Ach und Krach überstanden, ließ er vor der versammelten Journalie die Hosen herunter: „Denen, die nicht an mich geglaubt haben, möchte ich sagen, dass Ihr mir einen blasen könnt.“ Der Fifa war so viel Freizügigkeit eine zweimonatige Strafe wert.

Welche verbalen Trainer-Entleisungen fallen euch ein?

Autor:

Patrick Torma aus Essen-Nord

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