Am Ball vorbei (8.Juni): EM? Ich hab' jetzt schon keine Lust mehr...
"Am Ball vorbei" - das ist eine Kolumne zum Geschehen auf und neben den Plätzen in Polen und der Ukraine. Mit knallharten Analysen und wirren Gedanken zur schönsten Nebensache der Welt - die heute tatsächlich nicht im Vordergrund steht...
Es ist angerichtet, alle Augen blicken für vier Wochen nach Osteuropa. Oder auch nicht. Die Diskussionen der vergangenen Wochen waren hitzig, und wer sich den Tenor zu Herzen nimmt, dem beschleicht mit dem Druck auf die Fernbedienung das Gefühl, ein Antidemokrat und Tierquäler zu sein.
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein großes Fußballturnier madig geredet wird. Südafrika war zu kriminell, Schweiz und Österreich mit Hooligans verseucht, Deutschland erst recht und obendrein zu miesepetrig, Portugal für eine EM zu weit weg, Japan und Südkorea arbeiternehmerunfreundlich…Nun also die Ukraine, die so viel auf dem Kerbholz hat, dass man beinahe vergisst, dass die EM zu einem Teil auch in Polen stattfindet. Aber reicht es auch für einen Boykott?
„Sport und Politik passen nicht zueinander“, sagen die Fußballfunktionäre unisono. Glatt gelogen. Allein die Vergabe eines Großereignisses ist eine höchstpolitische Angelegenheit. Katar hat die WM 2022 jedenfalls nicht im Bingo gewonnen. Angesichts solcher Verfahren ist es wichtig, den Finger in die Wunde zu legen. Erst recht, wenn fragwürdige Regime wie in Argentinien (WM 1978) oder China (Olympia 2008) plötzlich die Chance erhalten, einen auf Friede, Freude, Eierkuchen zu machen. Aber bei allem Gerechtigkeitssinn: Die Ukraine ist nicht mit einer Militärjunta oder einem Einparteienstaat in einem Topf zu werfen.
Streit um Tymoschenkos Haftbedingungen: Berechtigter Protest oder riskanter Machtkampf?
Politische Hintergedanken, die gab es freilich auch, als die Wahl 2007 auf die Ukraine als Co-Gastgeber fiel. Ein Land, das im Zuge der Auflösung der Sowjetunion seine Unabhängigkeit erlangte, noch immer damit beschäftigt ist, den Schatten des Eisernen Vorhangs abzustreifen und eine EU-Mitgliedschaft anstrebt. Hoffnung brachte die Orangene Revolution 2004, doch die hat sich, wie man inzwischen weiß, als Totgeburt herausgestellt. Eine Geburtshelferin war damals Julia Tymoschenko.
Eine Frau, die zweimal an der Spitze der Regierung stand und zahlreiche Machtkämpfe austragen musste. Und ihr Amt missbrauchte? Weil die ukrainischen Gerichte diesen Vorwurf als erwiesen ansehen, verbüßt die Oppositionspolitikerin heute eine siebenjährige Haftstrafe. Das Warum allerdings interessiert in diesen Tagen weniger. Ein Streit über die Haftbedingungen Tymoschenkos ist entflammt. Die 51-Jährige leide unter einer möglicherweise unheilbaren Rückenkrankheit; da ihr die eine angemessene Behandlung untersagt worden sei, trat sie in den Hungerstreik, den sie Anfang Mai aufgab. Ihr wurden Hafterleichterungen gewährt, Ministerpräsident Asarow stellt der deutschen Regierung in Aussicht, den Misshandlungsvorwürfen auf den Grund gehen zu dürfen. Die gewährte Behandlung hat Timoschenko aus Protest wieder abgebrochen.
Berechtigter Protest, Hilferuf oder ein riskanter Versuch eines verlängerten, medial wirksamen Machtkampfes? Ich habe so meine Probleme, mir ein endgültiges Urteil zu bilden. Schwarz- und Weißmalerei reichen bei mir nicht aus, um als Sportinteressierter auf den Boykott-Zug aufzuspringen. Zumal mich eine weitere Frage beschäftigt: Wie groß wäre der Aufschrei, wenn nicht gerade die EM vor der Tür stünde?
Sicher, ein mediales Großereignis ist ein geeignetes Vehikel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Man kann den Bogen aber auch überspannen – wie im Fall der Hundemorde. Ein wichtiges Thema, bei dem aber von Seiten einiger Tierschützer mit Ungenauigkeiten und Auslassungen gearbeitet wird. Ob Kalkül oder einfach Unwissenheit dahinter steckt, so wie sooft, wenn Petitionen und Boykottaufrufe per Mausklick herumgereicht werden, sei mal dahin gestellt.
Die Hundemorde - Diskussion ohne Fortschritt?
„Tote Hunde für König Fußball“, postulieren Tierschützer. Mag sein, dass die Hundetötungen in der Ukraine im Vorfeld zugenommen haben (was zu verurteilen ist!), die Überschrift suggeriert jedoch, dass sich die Hundefänger erst mit der EM-Vergabe 2007 auf die Jagd gemacht haben. Dabei bedienten sich Ukrainer schon Jahre davor eines fragwürdigen Populationsmanagements, wie dieser Bericht (http://www.fao.org/ag/againfo/themes/animal-welfare/dog-population-blog/en/?tx_wecdiscussion[single]=393) auf der Homepage der Animal Production and Health Division der Vereinten Nationen festhält. Die hier präsentierten Zahlen reichen bis ins Jahr 2001 zurück. Im übrigen räumt dieser Bericht mit der schön gefärbten Sicht von der friedlichen Koexistenz zwischen Mensch und Tier auf. Die Streuner werden nicht nur – wie oft behauptet - aus ästhetischen Gründen verfolgt. 2010 wurden in der zweitgrößten Stadt der Ukraine Charkiw (ca. 1,5 Millionen Einwohner) 1.926 Hundebisse registriert, 1.288 Bissverletzungen wurden durch streunende Hunde verursacht. Zum Vergleich: Für dasselbe Jahr sind in Berlin (ca. 3,5 Millionen Einwohner) 660 Hundebisse notiert.
Noch mal: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Das gilt aber auch für die Gegenseite. Wenn schon Aufklärung, dann richtig. Da darf man als Tierfreund darauf hinweisen, dass der Druck, den die Öffentlichkeit erzeugt hat, bereits im November 2011 zu einem ersten Einlenken (auch die Tatsache, dass das ukrainische Tierschutzgesetz seit 2006 die wilden Hundetötungen offiziell verbietet, fällt gerne unter den Tisch) geführt hat. Die Boykottaufrufe im Juni 2012 sind aber noch immer dieselben. Ernstnehmen kann ich sie daher nicht mehr: Moralkeule und Desinformation vertragen sich bei mir nicht.
Zumal: Ein Boykott der EM, per Fernbedienung, das heißt für mich: Wegsehen. Ich schaue lieber hin - nicht nur wenn der Ball rollt. Ich würde gerne sehen, wie jemand die Veranstaltung als Bühne für ein politisches Statement gebraucht. Nur fundiert sollte es sein. Sonst schalte ich tatsächlich ab.
Was meint ihr? Sind die Boykott-Aufrufe in euren Augen überzogen oder legitim?
Autor:Patrick Torma aus Essen-Nord |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.