Der Norden im Schnelldurchlauf - Jahresrückblick 2011

Schwarz zum Jahresanfang: Mit einem alternativen Trauerzug wird die Kulturhauptstadt zu Grabe getragen. Foto: Privat
33Bilder
  • Schwarz zum Jahresanfang: Mit einem alternativen Trauerzug wird die Kulturhauptstadt zu Grabe getragen. Foto: Privat
  • hochgeladen von Patrick Torma

Beim Fernsehen sind sie etwas schneller: Da flimmern die Jahresrückblicke schon Mitte November über die Bildschirme. Wir vom Nord Anzeiger dagegen kosten den Dezember voll aus und präsentieren die Rückschau auf 102 Ausgaben im Jahr 2011 erst auf den letzten Drücker.

Totgesagte leben länger

Die gute Nachricht vorweg: Auch ohne Ruhr.2010 stellt der Norden kein kulturelles Brachland dar. In einem alternativen Trauerzug trägt die Bürgerliste Nord die Kulturhauptstadt zu Grabe - ein stummer Protest gegen eine verfehlte Sport- und Kulturpolitik. Die allgemeine Katerstimmung bleibt allerdings aus. Im Gegenteil: Die kulturelle Vielfalt nördlich der A 40 blüht, zarte Knospen wie die Kulturmesse auf Carl oder das (leider) vom Winde verwehte Haldenfest verdienen einen festen Platz im Kalender. Fels in der Brandung ist ohnehin Zollverein: Vermeintliche Mängel im Brandschutz, Unfälle auf dem Gelände - das Welterbe trotzt der Negativpresse und präsentiert respektable Besucherzahlen.

Einmal Bronxund zurück

Der Karnap-Film war gestern, nun bekommt Altenessen sein Fett weg. Vor Ort diskutieren die Menschen recht differenziert über Subjektivismus und Sicherheit, jenseits der Stadtteilgrenzen ist der Stempel mit der Aufschrift „Angst-raum“ schnell aufgedrückt. Zugegeben: Eine Massenkeilerei auf der Frühlingskirmes ist nicht gerade förderlich für die Außendarstellung. „Meine Freunde meinen, ich wohne in der Bronx“, beklagt eine Anwohnerin bei einem Bürgergespräch in der Zeche Carl. Ganz so hoffnungslos ist die Lage dann aber doch nicht. Das Aktionsbündnis sicheres Altenessen (AsA) kümmert sich um das gespaltene Sicherheitsempfinden und zieht nach einem halben Jahr Arbeit ein positives, vielleicht sogar etwas überschwängliches Fazit. Denn: Die Vernetzung zwischen den Akteuren im Stadtteilen ist ausbaufähig, und der Schweinemarkt noch immer ein städtebaulicher Saulus.

Spitzenreiter, Spitzenreiter...

Wobei man bei der Ursachenforschung nicht beim Schweinemarkt stehen bleiben darf. Ob Kindergesundheit, soziale Armut oder Bildungsniveau - wenn es um strukturelle Defizite geht, spielt der Norden in der Champions League. Doch wie den Abstieg provozieren? Bei der Suche nach einem dritten (!) Kinderarzt ist man auf die Schützenhilfe aus Düsseldorf angewiesen. Vielfach wird nach Kreativität aus den eigenen Reihen gefahndet: Die Werbegemeinschaften im Bezirk VI arbeiten auf die Gründung einer Stiftung hin, die Jugendlichen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern soll, Eltern in Altenessen feilen an einem neuheitlichen Kita-Konzept. Hier drin liegt die Hoffnung begründet: Im Norden sind die Menschen bereit, die Probleme anzupacken.

Warten auf Godot

Bürgerschaftliches Engagement, das schlummert auch in Vogelheim. Doch so wirklich Bewegung kommt 2011 nicht in den Ortsteil. So verfällt der Computainer langsam in seine Einzelteile. Die Vogelheimer bereiten sich auf eine Rettungsaktion vor, müssen jedoch die Füße stillhalten, weil die Stadt die Zusammenlegung der Stadtteilarbeit in den Jugendhof favorisiert.

Ehemalige THS-Mieter warten auf eine zeitgemäße Sanierung ihrer Wohnungen, mehr als Absichtsbekundungen konnte die hiesige Mieterinitiative dem neuen Eigentümer, Häusser Bau, aber bisher nicht entlocken.

Nebenan geht die Harmuth-Müllverwertung ans Netz, eine Anlage der Firma S&B läuft für kurze Zeit ohne Filter - die Hintergrundmess-station Vogelheim zählt bis Ende Dezember stolze 44 Überschreitungstage in Sachen Feinstaub. Ein ganzheitliches Verkehrskonzept, so hofft die Stadtteilkonferenz, könnte für Entlastung sorgen, sollte der LKW-Verkehr nicht mehr über die Hafenstraße rauschen. Man muss aber kein Hirte sein, um zu wissen: Die Ankunft des Konzeptes verzögert sich weiter...

Nägel mit Karnap machen

Um die ganz großen Hängepartien kommen die Karnaper hingegen herum. Auch wenn das Frühjahrserwachen sprichwörtlich ins Wasser fällt: Dank Bergbauabsenkungen, Kanalsanierungen und Wetterkapriolen sind die Grundwasserpegel im Emscherbruch hoch und die Keller nass. Doch bevor sich jenseits des Kanals die in dieser Stadt sehnlich vermissten Bäderlandschaften auftun, werden die massivsten Probleme behoben. Die Emschergenossenschaft erklärt Karnap zum Pilotprojekt und stellt 3,2 Millionen Euro zur Verfügung.

Feucht werden in Karnap auch Sportleraugen, als die Immobilienwirtschaft die Aufgabe der maroden Turnhalle am Markt bekannt gibt. Der Protest gegen die Schließung verhallt aber schnell: Ersatz gibt es in Form einer „Mini-Halle“ an der Lohwiese, gleichzeitig wird der Weg frei für einen Supermarkt. Politiker aller Couleur frohlocken - die Reanimation des Ortzentrums ist eingeleitet.

Aufgestiegen aus Ruinen

Der Intensivstation entkommen ist auch der rot-weisse Patient von der Hafenstraße. Sportlich (direkter Wiederaufstieg in die Regionalliga, Sieg des Niederrheinpokals) und wirtschaftlich (Abschluss des Insolvenzverfahrens) erholt er sich, wenn auch auf einem niedrigen Niveau. Der Lebemann vergangener Jahrzehnte muss sich zurücknehmen, wenn RWE wer bleiben will. Das heißt aber nicht, dass der Lack gänzlich abgeblättert ist: Die Fans freuen sich über zwei Pokalabende (auch wenn die Mannen von Trainer Wrobel den zweiten Berliner nicht verdrücken können) sowie einen für nicht mehr möglich gehaltenen und erstaunlich geräuschlosen Stadionneubau. Zusätzlicher Balsam für die geschundene Vereinsseele: Mit der sechsstelligen Ausbildungsentschädigung für den nach Madrid gewechselten Mesut Özil weht ein Hauch von Weltfußball über die Hafenstraße.

Wehret den Anfängen

Deutschland diskutiert über neue Gefahren von rechts, im Essener Norden jedenfalls ist der Nährboden für braunes Gedankengut schlecht bestellt. 2010 wollten sowohl Pro NRW als auch die NPD Unruhe in Katernberg schüren. Doch der Stadtteil stellte sich quer und zeigt auch 2011, wie gut hier das Zusammenleben funktioniert. Der „Engel der Kulturen“ ist in Katernberg beinahe auf Dauertournee.
Stattdessen versuchen die Unverbesserlichen, Kapital aus der Sicherheitsdebatte in Altenessen zu ziehen - und schlagen just am Tag des Schurenbachhaldenfestes auf dem Forumsplatz auf. Hätten sie mal aufmerksam die Ergebnisse der AWO-Befragung gelesen: „Wir konnten ganz, ganz wenige rechte Tendenzen ausmachen. Die Bürger haben ihr Quartier noch nicht aufgegeben“, weiß Thomas Rüth vom AsA.
Mehr Aufmerksamkeit erhält die NPD am 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht, auf dem Weberplatz in der nördlichen Innenstadt. Erst fragt sich alle Welt, wieso die Polizei derartige Provokationen genehmigt. Doch es kommt noch besser: Die Organisatoren der Gegendemonstration werden polizeilich vorgeladen - weil ihr Protest nur für den Borbecker Raum angemeldet ist...

Lauschangriff am Kanal

Wenig Verständnis haben hartgesottene Musikfreunde für die Entscheidung, das südliche Kanalufer bei Veranstaltungen im Gelsenkirchener Amphitheater zu sperren. Doch dies sei keine Retourkutsche für Gratis-Hörer, beteuert der Veranstalter. Klingt logisch, schließlich macht Musik bzw. Lärm (Zutreffendes bitte ankreuzen) vor keinem Absperrband Halt. Vielmehr gehe es darum, ein ausuferndes Grill-Woodstock, und damit vermüllte Grünanlagen, zu vermeiden.

Die Sorgenlosigkeit mancher Freiluftbrutzler ist aber ein gesellschaftliches Problem. Diskussion um Grillverbot hin oder her: Man stelle sich vor, die Stadt käme bei schönem Wetter auf die Idee, Kaiser- und Helenenpark zu sperren...

Schonnebeck plant und baut
„Gammeliges aus Schonnebeck - Pinselstriche helfen hier nicht weiter“, unter dieser Überschrift nahmen wir Ende 2010 Schrottimmobilien unter die Lupe. Ein Jahr später gilt: Es hat sich was getan in Schonnebeck. Kaum fallen die Übergangswohnheime an der Schonnebeckhöfe der Abrissbirne zum Opfer, sind die geplanten senioren- bzw. krankengerechten Wohnungen schon vermietet. Der Nord Anzeiger berichtet über Planungen und Baufortschritt, danach glühen in der Redaktion die Drähte. Wer beruflich umsatteln möchte: Als Makler für Pflegewohnungen hat man derzeit gute Karten.

Undurchsichtiger sind die Planungen rund um das ehemalige Asylbewerberheim an der Garnbleiche. Wer das dahinrottende Ensemble mal live und in Farbe gesehen hat, möchte es eigentlich nicht mal geschenkt haben - tatsächlich ist das Vermarktungspotenzial enorm. Vielleicht hält sich die Stadt deshalb so sehr in der „Geheimsache“ Garnbleiche bedeckt, als ginge es um die Freigabe der Kennedy-Akten. Inzwischen aber sickert durch: Es gibt neue Kaufangebote.

Für Sportler in Schonnebeck indes ist 2011 ein gutes Jahr. Die Schwalbenträger gestalten ihren Schetters Busch neu, außerdem ist der Umbau im Nordostbad endlich abgeschlossen.

Ein Projekt wissen die Schonnebecker zu verhindern. Urgestein Aldi zieht es an die Portendieckstraße - doch die Politik appelliert ans Gewissen der Lebensmittelkette, erblickte sie doch im Zentrum Schonnebecks das Licht der Discounterwelt.
Derzeit sieht es tatsächlich so aus, als bliebe das Flagschiff erhalten.

Bezirk auf dem Prüfstand

Um das Zollverein-Areal braucht sich niemand Sorgen zu machen: Die RAG Montan Immobilien investiert kräftigt und baut ihren Firmensitz, auch Design-Stadt und Folkwang Kreativhochschule sind eingefädelt. Doch wie sieht es drumherum aus? In Katernberg, Schonnebeck und Stoppenberg? Das Drecker-Gutachten soll Antworten liefern, fördert aber - zur Ernüchterung vieler Katernberg-Konferenz-Teilnehmer - nur wenig Neues zu Tage. Der Tenor: Alles ist irgendwie verbesserungswürdig.
Dabei müssen sich Stadtplaner genauer überlegen, wie es mit Katernberg weitergeht: Das Förderprogramm „Soziale Stadt“ läuft aus, Personal und Ressourcen, das deutet sich an, werden in Altenessen benötigt... der Gesprächsstoff geht bestimmt auch 2012 nicht aus.

Neues am Neuhof

Wir geben zu, in unserem letzten Rückblick ist uns ein Fauxpas unterlaufen: Verkündeten wir doch etwas vorschnell das Ende der evangelischen Gemeinde am Standort Neuhof. Richtig ist: Die Kirche passte nicht mehr in den Klingelbeutel der evangelischen Kirche und ist inzwischen abgerissen worden. Doch die Gemeindearbeit geht weiter, in verkleinerten, aber renovierten Räumen. Nichtsdestotrotz blutet den Gemeindemitgliedern das Herz, wenn sie auf die Brache schauen, wo einst der Mittelpunkt des Gemeindelebens zu finden war. Die Allbau AG hat Erbarmen und stellt, zumindest optisch, Besserung in Aussicht: Das Gelände soll einer Wohnbebauung zugeführt werden.

Tatort Norden

Verbrechen lohnt sich nicht - dies gilt 2011 für sowohl große Haie, als auch für kleine Fische. Nicht ohne Witz ist die Geschichte vom Gullydieb, der sich nach erledigter Arbeit in der nächsten Pinte nieder- und den offenen Transporter nur wenige Meter davor stehen lässt. Aus der Kategorie „Facebook, dein Freund und Helfer“ stammt die Auflösung eines Tretrollerdiebstahls in Altenessen. Im sozialen Netzwerk brüsteten sich die Langfinger und luden sogar Bilder von der Beute hoch...

Prominentestes Opfer in den Mühlen des Gesetzes ist sicherlich Willi Nowack. Seine Berufung gegen seine Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung wird am Landgericht abgeschmettert. Für die SPD sind damit die alten Zöpfe endgültig abgeschnitten - wäre da nicht der Fehltritt eines Ratsherren, der sich nach einem Party-Aufriss auf Carl in einem Vergewaltigungsprozess wiederfindet. Gegen eine Zahlung von 50.000 Euro bekommt er das, was Nowack verwehrt blieb: Eine Bewährungsstrafe. Dafür muss er in Stadt und Partei alle Ämter nieder- und in der Presseberichterstattung seinen vollen Namen ablegen.

Für richtig Aufregung zum Jahresende sorgt eine 19-jährige Schülerin am Berufskolleg an der Blücherstraße. Ein maskierter Mann habe ihr wortlos eine Amokdrohung in die Hand gedrückt, sagt sie zunächst aus. Dann aber kommt heraus: Die Geschichte war erfunden. Die Angst der Mitschüler, die war allerdings real...

Allerlei auf Abwegen

Was passt hier nicht hin? Im Januar sind es jedenfalls drei Autos in einem Loch: Auf dem Gelände einer Autowerkstatt rutscht plötzlich die Erde weg, verletzt wird zum Glück niemand. Glimpflich läuft auch die ungeplante Landung eines Heißluftballons im Kaiserpark ab, genauso wie die Fahrt eines Mähdreschers entlang des Rhein-Herne-Kanals: Nur mit schwerem Gerät ist eine Notwasserung des Gefährts zu verhindern.

Bär Bruno und Kuh Yvonne lassen grüßen: Ein „Problemhirsch“ macht Schonnebeck unsicher. Anwohner verdächtigen das nahegelegene Wildgehege, das Tier absichtlich freigelassen zu haben, es kommt zu Begegnungen der unheimlichen Art, die im Bild festgehalten werden. Die Geschichte endet unspektakulär, das Tier hat eigentlich gar keine Lust auf Freiheit und stellt sich.

In eigener Sache
Im März hat das Team des Nord Anzeigers Grund zum Jubeln: Unser Blatt wird, stellvertretend für die Printerzeugnisse der WVW/ORA, vom Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter mit dem „Durchblick“, dem Preis für Bürger- und Verbrauchernähe, ausgezeichnet und landet im bundesweiten Wettbewerb auf Platz zwei. Über diese Prämierung freuen wir uns sehr, noch wichtiger ist uns aber das Feedback unserer Leser.

Dieses Feedback erhalten wir seit einiger Zeit vermehrt über unsere Bürgercommunity Lokalkompass.de. 2011 ist auch ein gutes Jahr für Bürger-Reporter, die zahlreich unsere Printausgaben mitgestalten. Ein Grund mehr, „Danke“ zu sagen!

Autor:

Patrick Torma aus Essen-Nord

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

2 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.