Anmerkungen zur Bundestagswahl 2021 (2)
Wie Radio Essen Wähler bevormundet und der AfD den roten Teppich ausrollt
Am 23.8.21 schrieb ich den folgenden Brief an die Redaktion von Radio Essen.
Werte radioessen-Redaktion,
da für mich wie für viele andere keine der im Bundestag vertretenen Parteien wählbar ist, bin ich auf die Suche nach Essener Kandidaten anderer zur Wahl stehender Parteien gegangen, um zu sehen, ob es Alternativen zu den etablierten Parteien gibt. Dabei stieß ich auch auf „Das Radio Essen Politikerpraktikum“, das ich hauptsächlich aus zwei Gründen sehr enttäuschend fand:
- Die Einschränkung auf die sechs im Bundestag vertretenen Parteien: „Die Liste der Kandidaten ist lang“ wird als Begründung dafür genannt. Das finde ich weder plausibel noch glaubhaft. Der WDR-Kandidatencheck beweist, dass es auch anders geht und dabei keine endlos lange Liste herauskommt. Hier konnten sich alle Parteien mit einem kurzen Statement vorstellen, die in Essen Direktkandidaten aufgestellt haben. Ich finde es unakzeptabel, dass eine Redaktion mit so einer schwachen Begründung bestimmen kann, was die Hörer für relevant zu halten haben. Das widerspricht auch dem Bildungs- und Informationsauftrag des Rundfunks entsprechend der Aufgabe der Grundversorgung. Dazu gehört in der Berichterstattung vor Wahlen auch, eben nicht nur über die die im Bundestag vertretenen Parteien zu berichten, sondern auch andere relevante Parteien angemessen zu berücksichtigen. Ein einfacher Vorschlag, welche Parteien noch relevant sind: alle Parteien, die in allen 16 Bundesländern bzw. in mindestens 10 Bundesländern Landeslisten aufgestellt und eine nennenswerte Zahl von Direktkandidaten in den Wahlkreisen aufgestellt haben und damit Ernsthaftigkeit und die Fähigkeit zur Teilnahme an der politischen Willensbildung beweisen. Das betrifft in Essen fünf Parteien, die bei Ihrem engen Relevanz-Raster einfach unter den Tisch fallen.
- Das Redaktionspraktikum nach Art einer Homestory ist ziemlich oberflächlich. Das führt dann dazu, dass die AfD-Kandidatin Pousset für ihren Kaffee und ihr Geschick beim Bedienen eines Plattenspielers in den höchsten Tönen gelobt wird, während sie in ihrem Videostatement unwidersprochen ausländerfeindliche Hetze betreiben kann, wie im letzten Satz: „… aber die ganzen Asylbewerber sollen in den Essener Norden und da ihr Unwesen treiben …“ Wenigstens dazu hätte ich ein Statement der Redaktion erwartet, die hier voll der AfD-Taktik der „Selbstverharmlosung“ auf den Leim geht. Da wird einem ja schon angst und bange vor der bevorstehenden Präsentation des in der Wolle braun gefärbten AfD-Mannes Keuter.
Solche Leute lässt man unwidersprochen zu Wort kommen, andere durchaus relevante Parteien nicht. Auch wenn das seit Jahrzehnten von Presse, Rundfunk und Fernsehen so praktiziert wird: diesen alten, nicht selten antikommunistisch motivierten Zopf sollte man endlich abschneiden. In diesem Sinne abschließend meine Frage: In welcher Form will die Redaktion in den nächsten Wochen die anderen relevanten Parteien in ihrer Berichterstattung angemessen berücksichtigen?
Eine schwache Rechtfertigung für die Bevormundung der Wähler
Die Antwort kam zwar prompt noch am selben Tag. Doch sie fiel genauso enttäuschend aus, wie das „Radio Essen Politikerpraktikum“. Auch wenn mein Beitrag dadurch etwas lang wird, dokumentiere ich die Antwort des Chefredakteurs Christian Pflug komplett:
Sehr geehrter Herr Urbat,
haben Sie vielen Dank für Ihre ausführliche und kritische E-Mail. Sicherlich haben Sie Recht, dass die Begrenzung einer zur Wahl stehenden Liste von Parteien und Direktkandidat:innen immer die Gefahr birgt, nicht die 100%ige Informationskraft für alle Bürgerinnen und Bürger zu entfalten. Einerseits. Andererseits sollten Sie unseren Einfluss als Unterhaltungsmedium bei inhaltlichen Fragen, z.B. in Bezug auf Wahlprogramme, nicht überschätzen. Wenn wir etwas mit unseren Formaten tun können, dann Aufmerksamkeit erzeugen für die Bundestagswahl insgesamt, für Menschen, die sich engagieren und in die Politik gehen, für die Arbeit von Parteien im Bundestag. Wir sind ein privatwirtschaftlich organisiertes Radio in Nordrhein-Westfalen und haben Auflagen, die wir entsprechend unserer Lizensierung erfüllen müssen, allerdings gehört der von Ihnen zitierte „Bildungs- und Informationsauftrag des Rundfunks entsprechend der Aufgabe der Grundversorgung“ nicht dazu. Im Landesmediengesetz finden Sie einen Abschnitt, der die Grundsätze beschreibt:
§ 53 Programmgrundsätze (1)
"Lokaler Hörfunk ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Lokale Programme müssen das öffentliche Geschehen im Verbreitungsgebiet darstellen und wesentliche Anteile an Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung enthalten. Sie sollen den publizistischen Wettbewerb fördern. Sie dürfen sich nicht ausschließlich an bestimmte Zielgruppen wenden und sollen darauf ausgerichtet sein, bei den Hörfunkteilnehmer- innen und -teilnehmern angenommen zu werden. In jedem lokalen Programm muss die Vielfalt der Meinungen in möglichster Breite und Vollständigkeit zum Ausdruck gebracht werden. Die bedeutsamen politischen, religiösen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen im Verbreitungsgebiet müssen in jedem lokalen Programm zu Wort kommen können. Die Sätze 1 bis 4 gelten für programmbegleitende Telemedienangebote des lokalen Hörfunks entsprechend."
„Möglichste Breite“ und „bedeutsame politische (…) und gesellschaftliche Kräfte und Gruppen“ lassen natürlich Interpretationsspielraum. Zu berücksichtigen ist ja auch die völlig unterschiedliche Ausstattung der öffentlich-rechtlichen und der privaten Hörfunkredaktionen. Der WDR hat eine sehr große Politikredaktion, dazu eine Abteilung für den digitalen Auftritt (da ist man ja auch für den Kandidat:innen-Check zuständig), die größer ist als die komplett Radio-Essen-Redaktion. Wir müssen also unsere Berichterstattung begrenzen, denn die Alternative, wenn wir allen auch kleinsten Gruppierungen ein Forum bieten würden, hieße, dass wir das nicht leisten können und dann komplett auf diese Berichterstattung verzichten müssten. Es sind etwa doppelt so viele Kandidierende, wenn man komplett alle Direktkandidierenden vorstellen wollte – dabei sind unterschiedlichste Parteien und Strömungen, teilweise am extremen linken oder rechten Rand, teilweise schwer einschätzbar. Unsere Entscheidung ist, dass diese 50% Kandidierende aus Erfahrung nicht einmal ein Zehntel der Gesamtstimmen bekommen, in manchem Wahlkreis unter 5%. Heißt, die anderen 50% der im Bundestag vertretenen Parteien werden von 95% der
Wähler:innen favorisiert, aber bekommen auch nur 50% Raum.
Ein anderer Ansatz in unserer Überlegung ist natürlich auch die Prognose, wer von den vorzustellenden Kandidierenden eine (auch vielleicht geringe) Chance hat, in den nächsten Bundestag einzuziehen. Bisherige Bundestagsabgeordnete haben oft eine große Chance, die Vertreter:innen der etablierten Parteien stellen häufig die Gewinner:innen, die direkt gewählt werden. Die Landeslisten der Parteien sehen wir uns an und wer Chancen hat, darüber in den Bundestag zu ziehen. Prognosen sehen die „Freien Wähler“ am ehesten bundesweit in möglicher Reichweite zur 5-%-Hürde. Wie gesagt, auch diesen Aspekt haben wir berücksichtigt und sind zu unserer Entscheidung gekommen.
Es gibt noch einen Punkt: Der WDR-Kandidat:innen-Check zeigt, wie häufig sich
Direktkandidierende nicht an dem Fragen-Check beteiligen. Also ein großer Aufwand mit weniger als 50% (nach unserer Schätzung viel weniger) Erfolgsquote – viele Vertreter fehlen hier also auch – der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag greift ja hier auch nicht, denn über die Kandidierenden wird dann einfach gar nichts gesagt, keine Information zur Person etc.
Im Übrigen gibt es auch im Kandidat:innen-Check des WDR freie Meinungsäußerung in unterschiedlichster Richtung. Ich sehe da keine redaktionellen Korrekturen und ich sehe auch nicht, warum wir die Aussagen der von uns vorgestellten Kandidierenden zensieren oder kommentieren sollten. Es gibt keine strafrechtlich relevanten Aussagen, auch von „Hetze“ kann keine Rede sein. Wir tragen weder den von Ihnen zitierten „antikommunistischen Zopf“, noch lassen wir uns von der AfD unterstellen, sie von vornherein abzulehnen. Wir haben Kriterien festgelegt und beabsichtigen, diese auch nicht zu verändern. Noch ein Wort zu dem Format „Politikerpraktikum“: Ja, das ist inhaltlich eher oberflächlich – und ja: Der Kaffee der AfD-Lehrerin schmeckt womöglich sogar besser als der Kaffee des SPD-Gastes. Hier geht es darum, die Menschen hinter den Kandidierenden vorzustellen – und wie sehr sie noch den Alltag kennen, wer sie sind und wie sie mit Humor, Selbstkritik umgehen oder ob Empathie im Spiel ist. Wahlveranstaltungen und Wahlprogramme sind öffentlich zugänglich, lange Inhaltssequenzen nicht für das Medium Radio. Wir können neugierig und aufmerksam machen – und bekommen im Übrigen viel Lob für das Format. Aber es muss nicht jedem gefallen, natürlich nicht. Ich glaube aber, dass sich manche Kandidierende selbst entlarven, wie sie ticken – und mancher kritische Einwurf des Moderators (auch und vor allem bei den Gästen der AfD) macht das zusätzlich deutlich.
Mit freundlichem Gruß,
Christian Pflug
"Abgestufte Chancengleichheit" ist ein Unding
Da die Antwort weitgehend für sich spricht, mache ich nur ein paar kurze Anmerkungen:
- Das Zitat aus §53 der Programmgrundsätze formuliert im Grunde eine viel stärkere Anforderung als der Bildungs- und Informationsauftrag für die Öffentlich-Rechtlichen, wenn dort gefordert wird, „die Vielfalt der Meinungen in möglichster Breite und Vollständigkeit“ zum Ausdruck gebracht werden sollen. Da sehe ich überhaupt keinen „Interpretationsspielraum“, sondern den Versuch, die „bedeutsamen politischen, religiösen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen im Verbreitungsgebiet“ willkürlich einzuschränken und damit die Menschen zu bevormunden. Auf meinen konkreten Vorschlag, welche Parteien in Essen noch relevant sind, geht Christian Pflug gar nicht ein, obwohl das nur fünf Parteien beträfe und damit eine drohende „Überforderung“ der Redaktion von Radio Essen wohl abgewendet wäre.
- Die ganze schwache Rechtfertigung dieses Vorgehens folgt dem undemokratischen Prinzip der sogenannten „abgestuften Chancengleichheit“. Eine „abgestufte Chancengleichheit“ ist keine Chancengleichheit, so wie es auch keine „abgestufte Meinungsfreiheit“ gibt! Dieses Prinzip wird im Übrigen in allen Zeitungen der Funke Mediengruppe sehr strikt angewendet, was nur politisch und ideologisch motiviert sein kann. Ich glaube nicht, dass sämtliche Redakteure und selbst jede Redaktion das richtig findet.
- Ganz unmöglich finde ich die Unterstellung in der Antwort, dass ich gefordert hätte, man solle z.B. die AfD-Kandidatin zensieren, obwohl ich lediglich die Erwartung geäußert habe, dass die Redaktion zu deren Hetze etwas sagt. Und ja, ich bin auch für Zensur z.B. gegenüber einer offen faschistischen Partei wie „Der Dritte Weg“. Es ist ein Skandal, dass diese „Partei“ nicht längst verboten ist und sogar zur Wahl zugelassen wurde, womit diese Verbrechergruppe selbst nicht mal gerechnet hat. So können diese Leute im Wahlkampf Plakate mit dem Titel „Hängt die Grünen“ aufhängen und finden auch noch Richter, die allen Ernstes behaupten, dass das von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Der gleiche Bundeswahlleiter, der mit der Zulassung dieser Faschisten keine Probleme hatte, hat andererseits (vergeblich) versucht Parteien wie die MLPD und die DKP von der Wahl auszuschließen.
Ich bin überzeugt, dass das Prinzip der „abgestuften Chancengleichheit“ fallen wird, weil es Bevormundung, Zensur und Manipulation bedeutet. Dazu will ich hiermit einen Beitrag leisten.
Autor:Bodo Urbat (Essen steht AUF) aus Essen-Nord |
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