"Risikobehaftete" I-Dötze - Diskussionen auf der Katernberg-Konferenz
Über ihr Schlussplädoyer musste sich Angelika Sass-Leich wenig Gedanken machen. Schon vor zehn Jahren hatte sie auf der Katernberg-Konferenz zur Bildungssituation im Bezirk VI referiert. „Es muss sich dringend etwas tun“, forderte sie damals. Eine Forderung, die sich auch heute unverändert vortragen lässt.
„Wir machen uns ernsthafte Sorgen. Viele Dinge, die wir hatten, fallen einfach weg“, hält die Schulleiterin der Herbartschule stellvertretend für viele Schulen im Bezirk VI fest. Dabei wähnte man sich in Beisen auf dem richtigen Weg. Dank der Yehudi Menuhin-Stiftung und des MUS-E-Projekts war die Schule in der Lage, ihre rund 150 Schülern („über 90 Prozent“ mit Migrationshintergrund) musisch-kulturell auszubilden und dabei unentdeckte Talente zu fördern. Nach der Insolvenz der Stiftung brach ein Stützpfeiler im Lehrplan einfach ein. Um ihn wieder aufzurichten, bedarf es nun der Unterstützung williger Sponsoren. Und die stehen nicht mal eben Schlange.
Ein Einzelbeispiel unter vielen, beinahe jede Schule hält eine ähnliche Geschichte parat. Ob Rückzug der Philharmonie oder Verlust von festangestellten Betreuern im Zuge der Umstrukturierung des Offenen Ganztages – begründet würden diese Entwicklungen stets mit dem Argument, die vorhandenen Mittel seien gleichmäßig auf alle Schulen im Stadtgebiet zu verteilen. Nach dem „Gießkannenprinzip“, wie kritische Lokalpolitiker anmerken. Dabei gebühre dem Norden besondere Aufmerksamkeit.
Wie nötig der Norden diese Aufmerksamkeit hat, belegen die Zahlen, die Jürgen Schroer, Leiter des Kinder- und Familienbüros im Jugendamt, in der Lohnhalle im Triple Z vorstellt. Demnach komme jedes dritte Kind in Schonnebeck (33 Prozent) mit einem gesundheitlichen Defizit in die Schule, in Stoppenberg fast (46 Prozent) bzw. in Katernberg sogar jeder (52 Prozent) zweite I-Dötze. An einigen Schulen sind die Zahlen noch gravierender. An der Katernberger Grundschule an der Viktoriastraße, einer Stammschule für Kinder aus Sinti-und Roma-Familien, werden Kinder bei ihrer Einschulung auf ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten hin getestet. Das Ergebnis: Im Schnitt sind Dreiviertel der Schulanfänger „risikobehaftet“. Von 87 Anmeldungen in diesem Jahr bestanden nur fünf Schüler den Test ohne Auffälligkeiten.
Die Gründe für das schlechte Abschneiden sind vielfältig. Einer ist in der mangelnden Frühförderung zu finden. Dabei stünden für 1.800 Kinder im Bezirk VI 1.600 Kita-Plätze bereit, wie Jürgen Schroer vorrechnet. Einen Strick will Claudia Henrichwark, Schulleiterin der Viktoriaschule, nicht daraus drehen: „Die Kitas trifft keine Schuld. Es mag zwar genug Plätze geben, ob sie wahrgenommen werden, ist aber eine andere Sache.“ Hier sei eindeutig Elternbildung gefragt. Dem stimmt Schroer zu: „Ohne Hartz IV-Familien stigmatisieren zu wollen: Es gibt einen engen Bezug zwischen Transferleistungen, Bildung sowie Gesundheit und Entwicklung der Kinder.“ Desweiteren gebe es Nachholbedarf in der Sprachförderung: 35 Prozent der Kinder im Bezirk können dem Unterricht nicht angemessen folgen.
Doch wie will man dem gegenübertreten? Jürgen Schroer verweist darauf, dass die Stadt bis 2016 „jährlich 10 bis 15 Millionen Euro“ zusätzlich in Betreuungsangebote investieren wird. An den Schulen werden dagegen verschiedene Konzepte erprobt. An der Grundschule Viktoriastraße wurde die „Schuleigangsphase“ eingeführt, dabei können die Klassen eins und zwei in drei Jahren durchlaufen werden. „Ohne dass das dritte Jahr auf die gesamte Schulzeit angerechnet wird. Es handelt sich hierbei nicht um ein klassisches Sitzenbleiben. Die Schulpflicht bleibt unangetastet“, erläutert Claudia Henrichwark.
Angelika Sass-Leich setzt auf den Offenen Ganztag, 75 Prozent der Kinder bleiben auch am Nachmittag in der Herbartschule - ein Verdienst der Elternarbeit in Beisen. Denn der Offene Ganztag ist ein freiwilliges Angebot, das Eltern bezahlen müssen. „Deshalb haben wir den Versuch unternommen, uns zu einer gebundenen Ganztagsschule umwidmen zu lassen. An einer gebundenen Ganztagsschule ist der Ganztag für die Kinder verpflichtend, für die Eltern aber kostenlos.“ Der Antrag der Herbartschule wurde vom Schulministerium bereits 2009 abgelehnt.
Bürgerstiftung für den Bezirk
Die Mitglieder der Katernberg-Konferenz wollen einen Beitrag zur Verbesserung der Bildungssituation leisten. Im Triple-Z wurde die Gründung einer Bürgerstiftung angeregt, mit dem Ziel, Jugendliche in eine Ausbildung zu begleiten. Vorbild ist die Heinrich Spindelmann-Stiftung in Altenessen. Nähere Infos gibt es bei den Werbegemeinschaften in Katernberg, Stoppenberg und Schonnebeck sowie demnächst im Nord Anzeiger. Zudem hat die Katernberg-Konferenz drei Beschlüsse vorgelegt: So werden die Forderungen des Arbeitskreises Schule im Bezirk VI nach einer Neuausrichtung des Offenen Ganztages sowie der Verbesserung der schulischen Situation unterstützt. Gleichzeitig fordert die Katernberg-Konferenz Politik und Verwaltung auf, sich für den Erhalt der Richard-Schirrmann-Schule, der einzigen städtischen Realschule im Bezirk, einzusetzen.
Autor:Patrick Torma aus Essen-Nord |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.