Stadtteil-Amputationen
Maria & Vincenz
Ich stehe auf einer Anhöhe in Essen-Stoppenberg und erblicke dieses riesige Kreuz. Mein Blick schweift umher, in der Ferne entdecke ich das Essener Rathaus. Das imposante Kreuz wirkt mächtig, das entfernte Rathaus klein. Es ist ein ruhiger Ort, an dem ich verweile. Plötzlich durchbricht ein Martinshorn die wohltuende Stille. Meine Gefühle fangen an, Achterbahn zu fahren.
Seit den Schließungen zweier Krankenhäuser im Essener Norden reagiere ich anders auf den Klang von Martinshörnern. Das Wissen, dass im Notfall Jede Sekunde zählt, wird begleitet vom bedrückenden Gedanken, dass die Anfahrt zum nächsten Krankenhaus jetzt länger dauert. Gerade noch stand ich selbst in einem Megastau an einer Baustelle und plötzlich wirkt eine einspurige Straße viel bedrohlicher als noch vor einem Jahr. Ich erlaube mir diese Gefühle der Angst und der Sorge.
Angst ist kein guter Ratgeber? Doch, denn er zeigt auf, wo der Schuh drückt, wo etwas verkehrt läuft. Wegschweigen und verdrängen von Ängsten führt zu einer Verstetigung und Steigerung selbiger.
Im Essener Norden haben viele Menschen Angst und/oder Sorge. Diese als unbegründet abzubügeln mit der lapidaren Äußerung "Es gibt keinen Bettenmangel in Essen", ist moralisch verwerflich.
Zehntausende Bürger des Nordens tragen ihre persönlichen Kranken(haus)-Geschichten mit sich. All diese Menschen haben Namen, so wie einst ihre Häfen der Heilung und Linderung auch Namen hatten: Marienhospital und St. Vincenz. Wohnortnähe ist sowohl für Patienten als auch für Angehörige ein riesiges Pfund in Zeiten notwendiger medizinischer Behandlung. Egal ob Maria und Vincenz ein Baby erwarten oder einer der beiden eine langwierige Krebsbehandlung durchstehen muss, es ist ein urmenschliches Anliegen, dies in seinem gewohnten Umfeld zu durchleben.
Hatte Essen wirklich ein "Luxusproblem"?
Wenn in diesen Tagen in Dauerschleife von ausreichenden Krankenhausbetten gesprochen wird, bleibt noch immer die Frage unbeantwortet: Warum überhaupt wurde vollmundig das "Neue Krankenhaus Altenessen" versprochen? Die abgrundtiefe Enttäuschung bei den Bürgern im Norden ist längst nicht abgeklungen. Im Gegenteil, der soziale Frieden in der Gesamtstadt wurde zum Aderlass gebeten. Der fehlende Aufschrei aus dem Süden der Stadt ließ die Entzündungswerte des kranken "Nord-Süd-Gefälles" in die Höhe schnellen.
Die Wut, die Enttäuschungen, die Sorgen und Ängste werden sich nicht durch Beschwichtigungsformeln und Hinhalteparolen vom Tisch wischen lassen. Der Norden hat sich verändert. Er hat erkannt, dass seine Probleme über Jahrzehnte wie mit dem berühmten Küchentuch behandelt wurden: "Mit einem Wisch ist alles weg". Ein kurzer Fingerzeig auf Nebenschauplätze und zum Teil absurde Prüfaufträge reichten immer aus, um in einen erneuten Tiefschlaf und das große Schweigen einzutreten. Die Ursache: Bedrohlicher Lobbymangel, flankiert von wachsender Resignation.
Die Folge dieser umfassenden Dauerignoranz-Behandlung: Der Patient "Essen Nord" wurde an vielen Stellen seines Körpers kränker und kränker. Es sind nun die Selbstheilungskräfte, die den Norden wieder auf die Beine bringen können. Die Heilung der "Stimme des Nordens" scheint auf einem guten Weg zu sein. Möge sie immer lauter und manchmal auch bedrohlich in der Gesamtstadt erschallen. Wer den sozialen Frieden in der Stadt gewährleisten möchte, tut gut daran, auf Maria und Vincenz zu hören:
"Wir tragen unser Kreuz, aber amputieren lassen wir weder uns noch unser Lebensumfeld."
Autor:Susanne Demmer aus Essen-Nord |
1 Kommentar
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.