Lost in Translation - Guido Reil & die SPD-Essen
„Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.", proklamierte Sigmar Gabriel vor sieben Jahren.
Das „Wir“ der Essener Sozialdemokratie folgte dem Sigmar nicht und verpasste es, das Augenmerk auf die anstrengenden Stadtteile zu richten und den Blick aufs Brodelnde zu schärfen.
Dann sagte einer „Der Essener Norden schafft das nicht“. Ein widerwärtiges Hauen und Stechen begann. Eine Aussage wurde zum Aufschrei und hysterisch boxte man sich bis zum Parteitag durch. Bürger, andere Parteien und die Medien boxten mit. Die Welt sprach über Essen und in Essen verpasste man es, in einen unaufgeregten Dialog zu treten. Stattdessen trat man sich gegenseitig in den Arsch oder puderte sich mit Theorien die wunden Stellen. Blauäugigkeit und blaue Flecken statt roter Einigkeit und bunter Stadtgesellschaft waren das Ergebnis.
Der Mann mit dem Arschleder
Dass die Menschen im Ruhrpott raue Töne können, ist bekannt. Genauso bekannt ist das rhetorische Leistungsspektrum mancher Politiker. Als jüngst Rhetorik-Ritter auf Ruhrpott-Knappen trafen, hat man sich schlicht und einfach nicht verstanden. Ja, so einfach ist das. Statt langer Diskussionsabende und sachlicher Dialoge gab es einen hektischen Schwertkampf mit Funkenflug. Die Zahl der entstandenen Brandherde ist bislang unbekannt, genauso das Ausmaß der verbrannten Erde.
Das Pressefeuergefecht
Reflexartig loderte das Pressefeuer noch einmal riesig auf, als der laute Mann aus dem Norden beim jüngsten SPD-Parteitag nicht gewählt wurde. Ich sage meine Meinung: Es kotzt mich an, mit wieviel Hohn, Spott und Beleidigungen Guido Reil in den Medien überschüttet wurde. Man muss einen Guido Reil nicht mögen, um gewisse Umgangsformen zu wahren.
Das große Wort dieser Zeit, INTEGRATION, erfüllt sich im und mit Leben, wenn man den Nächsten mit einbezieht und aus Differenzen eine Einheit anstrebt. Es bleibt abzuwarten, wie es um die Integrationsbemühungen von Guido Reil in die SPD-Essen steht. Zu schreien, dieser Bergmann sei einfach zu plump, um ihn dann plump zu bepöbeln, zeigt mir nur eins: Der Klassenkampf ist noch lange nicht vorbei.
Alles andere als Flasche leer...
Ihn nach einem Parteitag als „Flasche leer“ zu bezeichnen ist zwar werbewirksam reißerisch, verschließt aber die Augen vor dem, was das Grundthema war: Hier hat jemand einen Geist aus einer Flasche befreit. Jetzt ist die Flasche zwar leer, aber der Geist wurde bereits über Jahre immer fetter und er hätte die zerbrechliche Hülle eh zum Platzen gebracht. Mit scharfen oder auch dummen Worten kann man umgehen lernen, mit fliegenden Scherben nicht.
Des Bergmannsdackels Kern
Der Grat zwischen Angst, Wut und Hoffnungslosigkeit verschwimmt in Zeiten der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit schnell. In Essen brachte Guido Reil das zur Sprache. Dass er hier Übersetzungsfehler machte, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass andere sich die Ohren zu hielten und zu Wutpolitikern mutierten, die statt zum Dialog zum Kampf bliesen. Es fehlen wohl die verrauchten Kneipenhinterzimmer aus alten Tagen, wo ellenlange Diskussionen manchmal wochenlang, oft aber mindestens ein paar Tage und Nächte dauerten. Man atmete öfter mal durch, bevor man vielleicht doch mal "Feuer frei" rief.
Altenessen, Altendorf & Co. is waiting...
Nun muss die neue SPD-Riege ran an den Kern des ganzen Spektakels: die sozialen Schieflagen in unserer Stadt. Die Aufstellung sieht ja schon ganz gut aus.
Die Ansage „Schnauze, sonst knallt’s“ hat sich nicht bewährt. Geknallt hat es schon viel früher. Und zwar dort, wo Sigmar Gabriel die Sozis hinschicken wollte. Viele sozialhungrige Mäuler sind dort noch nicht gestopft und die Menschen werden sie weiterhin aufreißen. Es liegt in der Hand der SPD, ob jemand anders sie füttert oder man selbst ein schmackhaftes, bekömmliches Mahl anbietet.
Bleibt zu hoffen, dass der Mann, der dort wohnt, wo andere mal hingehen wollten, weiter seinen Allerwertesten durch die Stadtteile bewegt, als Sprachrohr und Übersetzer der Bürger fungiert und mit dem Neuanfang der Essener SPD viele, viele Sprachbarrieren abgebaut werden. Hier müssen noch Einige eingenordet werden. Die Devise: Alle auf zum Sprachkurs. Seit‘ an Seit'!
"Wir dürfen uns nicht zurückziehen… Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Und das müssen wir ändern.“, war die Devise vor sieben Jahren und ist heute aktueller denn je.
Wenn man sich darüber hinaus das Thema „Diskussionskultur“ auf die Fahne schreibt, dann werden auch sicherlich weniger Menschen lauthals brüllend und zum Teil kopflos „Luft ablassen“ oder wie man im Pott sacht „durch den Arsch atmen“. Und die Sprachhochbegabten werden lernen, dass manche Blähung zwar laut ist und stinkt, aber eine Ursache hat, die ernst genommen werden muss.
GLÜCK AUF!
Aktualisierung: Ein paar Stunden nach Erscheinen dieses Beitrages gab Guido Reil sein Parteibuch ab.
Autor:Susanne Demmer aus Essen-Nord |
14 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.