Essen im Parteitagsfieberwahn
AfDemonstrations-Gedanken-Gedöns

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Liebes Tagebuch,

es ist Samstag, 29. Juni 2024, 4.00 Uhr. Endlich ist er da, der „große Tag“: Ich gehe mit Rolf demonstrieren, ich zeige Flagge, ich zeige Gesicht und werde mich gegen die Demokratiefeinde stellen. Schon seit Wochen hüpfe ich vorfreudig durchs Netz und ich konnte es wachsen sehen, ich konnte es immer stärker spüren: Ich bin ein fantastisches Demokratiefeinde-Einzel-Bollwerk, das heute auf der großen Bühne für Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit einen glamourösen Auftritt haben wird. Auf geht’s, ich muss Rolf abholen. Es ist seine erste Demo. Ich packe noch rasch ein paar Zusatzluftballons ein.

6.00 Uhr: Gladbecker Straße. Rolf steht schon vor der Tür und erspäht, seiner Meinung nach, die ersten Demokratiefeinde. Sie halten sich nicht an Regeln und Gesetze, werfen aus ihren Fahrzeugen heraus mit Aludosen, Pappbecher und Zigarettenstummeln, sie rasen, lärmen, töten und verletzen. Als Zeichen meines Widerstandes setze ich mich kurz an den Straßenrand und stricke an einem Socken, den ich mit LEDs beleuchten werde. Das wird ihnen hoffentlich eine Mahnung und Warnung sein. Ich erkläre Rolf, dass die wahren Demokratiefeinde woanders sitzen.

6.20 Uhr: Ein Mann fragt mich, ob ich einen Euro für ihn hätte. Ich verneine, drücke ihm ein Bio-Dinkelbrötchen in die Hand und frage, ob er mit mir für die Freiheit demonstrieren geht. „Wat für ne Freiheit?“, fragt er mich, aber ich habe weder Lust noch Zeit, ihm zu antworten. Sorry, Time-Management geht jetzt vor. Heute geht’s um alles.

6.30 Uhr: U-Bahn-Haltestelle. Die Rolltreppen und Aufzüge funktionieren nicht. Ach ja, das hat die Ruhrbahn ja angekündigt. Ein hagerer Junkie berichtet, das sei hier immer so. Ich erkläre ihm die Mängelmelder-App und schreibe ihm noch flott die Adresse der Essener Tafel auf einen Zettel. Gut, dass ich so gut vernetzt bin. Fördern und fordern. Man kann es nicht oft genug sagen.

7.00 Uhr: Rolf hat mich in die falsche Bahn gelockt. Er zeigt mir einige zerstörte Ecken. „Fremde Demokratiefeinde haben „unseren“ Bergmann geklaut und bekannte Demokratiefeinde nehmen es schweigend hin. Demokratiefeinde haben seit Jahrzehnten das Ausrauben und Plündern unseres Stadtteiles zugelassen. Das fängt beim Schwimmbad an und endet beim Krankenhaus.“ Ich nicke und erkläre Rolf die Inhaltsstoffe meines, extra für ihn gezauberten, Smoothies, reiche ihm die Flasche und weise darauf hin, dass Stadtteile wie Smoothies sind. Da kann ganz viel Tolles drin sein, aber eben nur dann, wenn man selbst was für den Inhalt tut. Rolf schüttelt den Kopf, aber ich muss jetzt wirklich mal wieder aufs Smartphone schauen. Bei aller Liebe, ich bin ja gerne nah am Menschen, möchte ihm zuhören, aber was bringt das ganze Zuhören, wenn man selbst nicht allumfassend informiert ist?

9.00 Uhr: Alte Badeanstalt. Ich mache ein Foto vom Gesundheitskiosk und schicke es in meine Netzwerk-Runde. Text: „Es geht auch in Altenessen voran. Man muss nur wollen.“ Das Internet sendet mir internationales Schulterklopfen. Jan aus Berlin schreibt: „Du bist die Beste. Immer und überall dabei und dabei immer die Armen im Blick. Hauptstadt-Knutschi …“.

10.00 Uhr: Bahnhof Altenessen. Extremisten haben den Bahnverkehr an der Grenze zu Gelsenkirchen „umarmt“ und lassen ihn nicht mehr los. Rolf sagt, dass wir alternativ zum Schrebergartenfest gehen könnten. Ich bin empört und enttäuscht von ihm. Aber ich will kein Unmensch sein, wahrscheinlich liegt es am Bildungsunterschied zwischen uns. Man darf ihnen nicht böse sein. Ich schenke Rolf einen handgemachten Schlüsselanhänger aus Guatemala und verspreche, dass ich ihm in der nächsten Woche mal ein paar Links und Bücher zukommen lasse. Bevor ich ins Taxi steige, knuddel ich ihn nochmal und sage „Jammern nutzt nix, Kopf hoch. … Und Danke für die kurze Stadtteilführung, hier gibt’s echt schöne Ecken.“

11.00 Uhr: Gladbecker Straße. Hier geht nichts mehr. Aktivisten haben alle Kreuzungen lahmgelegt. Taxifahrer Ayman grinst und sagt: „Fast wie immer.“ Aus dem Autofenster sehe ich Rolf, wie er fußläufig in die Bäuminghausstraße einbiegt. Er hat jetzt einen Deutschlandschal an. Ich finde diese patriotischen Kleidungsstücke furchtbar, aber „mein“ Rolf sieht wie ein putziger Ureinwohner aus. Ist halt eine andere Kultur. Ich erzähle Ayman von meinem tunesischen Kochkurs und frage, was er empfindet, wenn er all die vielen Deutschlandflaggen an den Häuserwänden sieht. „Schön“ sagt er, „macht Häuserwände bunt“. Ich vermute, er hat Angst oder Scham, sich mir zu öffnen. Meine Güte, was hat dieser Mann wohl schon an Rassismus ertragen müssen?

12.00 Uhr: Gladbecker Straße, Straßenstrich. Jupp und Susi haben sich zu uns ans Taxi gesellt. Ich frage die beiden „Auch zur Demo?“. „Wat für ne Demo?“.
Jupp erzählt, dass sie gerade beim Imbiss waren, aus Solidarität. „Schätzken, wir waren mit dreissich Leute Pommes essen. Hammer, wa? Und dat allet wegen der dauernden Bomben. Macht sich doch keiner Gedanken drübber, wat unser Fritten-Dealer schon für Umsatzeinbußen hatte. Den müssen wir doch unterstützen. Odder glaubse, dat dat die Stadt zahlt, nur weil der seinen Laden in Dauerschleife dicht machen musste? Haha.“ Jupp und Susi entscheiden sich für einen Besuch des Dorffestes in Karnap.

12.30 Uhr: Ich vertrete mir die Füße und komme mit einer Frau mit Hund ins Gespräch. Das Gespräch nimmt konfuse Züge an. „AfD-Parteitach? Scheiß der Hund drauf. Die können mich alle mal. Ich hab bei de Blauen doch schon mein Kreuz gemacht und gez muss auch ma gut sein. Und weisse wat? Geh mir wech mitte Politik. Seit siebzich Jahren bin ich hier auffe Welt und kein einziget Wählen hat mir irgendne Verbesserung gebracht. Nix, rein gar nix hat dat gebracht. Im Gegenteil, für mich hat sich dat allet nur verschlechtert. Also, geh mir wech, Kreuzchen hab ich gemacht und damit is auch gut gez. Machet gut, der Brutus muss gez kacken, Tschüss, nee. Und pass auf dich auf.“

13.00 Uhr: Gladbecker Straße/ Ecke Grillostraße. Mein Smartphone piept. „Alle Demonstrationen wurden abgesagt. Der Deutsche Wetterdienst warnt vor starken Unwettern. Die Nina-Warn-App berichtet über einen Bombenfund in Rüttenscheid.“

Liebes Tagebuch, ich mach mal Schluss für heute.

Autor:

Susanne Demmer aus Essen-Nord

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