Antifaschismus
33 Naziführer sehen dich an - Buch-Wiederveröffentlichung nach 89 Jahren

Walter Mehrings antifaschistischer Klassiker von 1934: Cover der aktuellen Neuveröffentlichung : "Nazi-Führer sehen dich an - 33 Biographien aus dem Dritten Reich". Auch nach fast 9 Jahrzehnten lesenswert! | Foto: Walter Wandtke
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  • Walter Mehrings antifaschistischer Klassiker von 1934: Cover der aktuellen Neuveröffentlichung : "Nazi-Führer sehen dich an - 33 Biographien aus dem Dritten Reich". Auch nach fast 9 Jahrzehnten lesenswert!
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Neue Chance Walter Mehring zu lesen

Gedenken an „90 Jahre Machtüberahme der Nationalsozialisten im deutschen Reich“, an die Kapitulation der Weimarer Republik vor dem Faschismus, an Bücherverbrennungen im Mai und Juni 1933, an tödlichen Terror. Diese Gedenktage bieten ermöglichen oft zu Unrecht vergessenes wieder an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Neuauflage von „Nazi-Führer sehen dich an – 33 Biographien aus dem dritten Reich“ ist eine Lesechance.
Das jetzt beim Verlag „wgb Theiss“ neu aufgelegte Buch wurde zwar erst 1934 in Willi Münzenbergs Exilverlag „editions du carrefour“ in Paris herausgegeben. Damals war es eine antifaschistische Reaktion auf das in Deutschland seit 1933 weit verbreitete antisemitische Machwerk „Juden sehen dich an“.
In diesem Pamphlet wurde in enger Verbundenheit mit dem „Stürmer“ bodenlose Hetze gegen Juden, insbesondere gegen jüdische Künstler und andere als jüdisch definierte Prominente verbreitet. Dessen Autor Johann von Leers war in den 30/40-Jahren Geschichtsprofessor und zeitweilig enger Mitarbeiter von Propagandaminister Josef Goebbels. Nach 1945 arbeiete Leers mit Zwischenetappen im nazifreundlichen Argentinien und späterem Übertritt zum Islam in ägyptischen Propagandadiensten und war dort für „Antizionismus“ zuständig.

Die Wahrheit über Nazigrößen kommt aus Paris

Die klar, knapp oft in sarkastischem Ton recherchierte Biographiesammlung „Naziführer sehen dich an“ erschien im Original anonym. Deren Autor Walter Mehring war als Journalist, Satiriker und Schriftsteller den Nationalsozialisten schon lange ebenso bekannt, wie verhasst. Als bedrohter „Linksintellektueller“ war es Mehring im März 1933 gelungen, sich drohender Verhaftung durch die Flucht nach Frankreich zu entziehen. Systemgegner des NS-Regimes wurden teilweise aber auch im Ausland verfolgt, eine offizielle Autorenschaft hätte wahrscheinlich zusätzliche hochgradige Gefährdung bedeutet.

Kein bloßes „Who is Who“ der Nazigrößen

„Naziführer sehen dich an“ konnte natürlich nicht den Anspruch besitzen, ein „Who ist Who“ der 1934 aktuellen Nazi-Machthaber zu sein. - Wobei hier die männliche Form genau passt, denn faschistische Frauen spielen in dieser Zeit kaum eine offizielle Rolle. Wir erleben in den Lebensläufen eher ein erschreckendes Panoptikum von schnellen Seiten- und Ideologiewechseln, krimineller Energie und unbesiegbarem Aufstiegswillen, der manchmal ebenso schnell im Absturz endet. Wir sehen Schlaglichter der höchsten Machtebene, wie auch der mittelmäßigen Führerebene der neuen Volksgenossen und Hitlerjünger.

Der „Röhm-Putsch“ naht – die braune „Revolution“ wird begraben

Im Frühjahr 1934 ist aber der Machtkampf im NS-Staat noch in brutaler Bewegung. Zwar sind demokratische Parteien wie SPD oder KPD schon seit Monaten verboten, andere wie das Zentrum haben sich selbst bereits aufgelöst. Auch die teils erzwungene, teils freiwillige Gleichschaltung vieler Vereine mit dem Nationalsozialismus ist schon vollzogen.
Während also - heute würden wir sagen, die Zivilgesellchaft bereits mundtot gemacht (oder auch umgebracht) wurde, sind die braunen Scharen der SA-Truppen mit dem werdenden „3. Reich“ immer noch unzufrieden. SA und die Volksgenossen der NSDAP wollen einen sichtbaren Anteil an der Macht im Staat. Wehrmacht, Industrie und rechtsgerichtetes Bürgertum haben jedoch Sorge, die braunen Truppen könnten nicht nur jüdische Geschäfte stürmen oder liberale und linke Bücher verbrennen, sondern auch ihre Privilegien antasten. Noch glauben viele der erzkonservativen NS-Unterstützer an den „Ersatzkönig“ Reichspräsident Hindenburg, der die braunen Massen in Zaum hält.

Braune Störenfriede in der Hitlerdiktatur ausschalten

Die stabile Diktatur Hitlerdeutschlands, die auch einen künftigen Eroberungskrieg erfolgreich bestehen soll, ist mit dem aktuellen Personal nicht gesichert. Spannungen zwischen unterschiedlichen Karrieristen, die mit der Machtergreifung unabhängig von fachlicher und persönlicher Qualifikation auf alle möglichen Positionen gespült wurden, können das „Dritte Reich“ noch gefährden. Erst mit der Nacht vom 30 Juni zum 1. Juli 1934 wird Hitler hier Klarheit schaffen. Unter dem Stichwort Verhinderung des „Röhm-Putsches“ wird Reichskanzler Adolf Hitler mindestens neunzig, wahrscheinlich aber bis zu 200 Gegner aus den Reihen der SA, wie auch konservative Rivalen umbringen lassen. Insbesondere Verantwortliche aus der Reichswehr brauchen nach den „Säuberungen“ des sogenannten Röhm-Putsches keine Sorge mehr zu haben, die Proleten der SA könnten ihnen die militärischen Machtstellungen bei der künftig größeren Wehrmacht streitig machen.

Aus Lebensläufen werden bald Nachrufe

Die Bewertung der 33 Nazi-Führer-Biographien sollte sich in einigen Fällen bald ändern. Nicht wenige der vorgestellten kleinen und größeren braunen Machthaber sind schon im Herbst 1934 entmachtet oder auf dem Friedhof vorzufinden. Prominentestes Opfer und vorheriger Mordbube ist sicherlich Ernst Röhm, hier noch „Reichsminister ohne Geschäftsbereich“, oberster Führer der SA und ehemals engster Wegbegleiter von Adolf Hitler.

Hierarchie des vorgestellten Personals

Walter Mehring hatte seine 33 Biographien, ihre Offenlegung krimineller Energien und all die persönlichen Vertrauensbrüchen unter braunen „Kameraden“ in sieben Kategorien unterteilt. Allen wurde ein aussagekräftiges ganzseitiges Porträtfoto, oft hoch offiziell mit Ehrenzeichen und Eichenlaub zugeteilt. Die Textmenge variiert nach je nach Bedeutung von über 18 Seiten beim Reichskanzler Adolf Hitler, über 10 Seiten beim Chefideologen Alfred Rosenberg, bis zu knappen 2 Seiten bei Karl Kaufmann, Reichsstatthalter von Hamburg.

Von Göttern zu betrogenen Betrügern

"Götter“ gib es im Frühjahr 1934 vier: Adolf Hitler; Ernst Röhm, Hermann Göring und Josef Goebbels ihnen wird um die 10 Seiten Text zugestanden.
Die „Halbgötter“ Rudolf Hess, Wilhelm Frick, Wilhelm Rosenberg, Walter Darrè, Hans Frank müssen bereits mit weniger Text auskommen. Wir erleben 13 Provinzgötter, allerdings mit Albert Leo Schlageter und Horst Wessel dann nur zwei „Heroen“ die als Vorkämpfer des 3. Reichs „ihr Leben hingegeben haben“. Es gibt mit Reichspräsident Paul von Hindenburg, seinem Sohn und Generalmajor Oskar von Hindenburg und dem zeitweiligen Reichskanzler General Kurt von Schleicher drei „Betrogene Betrüger“.
Während Paul von Hindenburg im Sommer 1934 an Alterschwäche stirbt, wird von Schleicher innerhalb der Mordaktionen Hitlers beim Röhmputsch getötet. Oskar von Hindenburg stirb ganz geruhsam erst 1960 in Bad Harzburg, hatte sich aber wohl nach 1933 erheblich größeren Machtzuwachs erhofft. Es dürfen auch die drei „Drahtzieher“ nicht vergessen werden. Hier nennt Walter Mehring als die wichtigsten Personen den jungen Industriellen Thyssen; den Finanzjongleur Dr. Hjalmar Schacht und den Generaldirektor, Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt.
Zur Wirkung von Exilliteratur
Über die damalige Wirkung der heimlich ins Reich geschmuggelten wenigen Buchexemplare dürfen wir uns natürlich keine Illusionen machen. Gut gemachte Propaganda ist leider auch heute noch meistens stärker, als auch unzweifelhaft recherchierte Tatsachen, vor denen gern Augen und Ohren verschlossen werden. - gerade wenn sie nicht so glänzend in Farbe oder heute aus dem Fernsehstudio eines Regierungssenders daherkommen kann
Zu Walter Mehring:
Im Gegensatz zu vielen seiner Verwandten und schriftstellerischen Freunde konnte Walter Mehring die Zeit der braunen Diktatur in Deutschland überleben. Nach der Flucht aus Deutschlandland 1933 und Exilstationen in Wien, Zürich und Frankreich, wo er nach Besetzung durch die Wehrmacht interniert wurde, gelang ihm doch noch die Überfahrt in die USA. Ab 1953 arbeitete und lebte er dann wieder in Europa. Gestorben ist Walter Mehrung 1981 in Zürich.
"Nazi-Führer sehen dich an - 33 Biographien aus dem Dritten Reich."  230 Seiten; neu erschienen 2023
Als weiteres Werk dieses Autors kann hier „Die verlorene Bibliothek“ empfohlen werden, 2013 neu herausgegeben.

Autor:

Walter Wandtke aus Essen-Nord

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