Endlich 50plus: "Schau Dich nicht um..."

Eva Ihnenfeldt: Als Kinder spielten wir ab und zu das Kreisspiel "Schau Dich nicht um - der Plumpsack geht herum..." Ich mochte es gern. Später sang Falco "Dreh Dich nicht um - schau schau - der Kommissar geht um". Erstaunlich, wie viele Warnungen es gibt, sich nicht umzuschauen...

Kennt Ihr das Kreisspiel noch vom Plumpsack? Man durfte sich nicht umdrehen, wenn doch wurde man gejagt. Ich spielte es sehr gern, denn Kreisspiele waren ein angenehm unterhaltsames Alleinsein in der Menge. Zu viel Nähe in Gruppen war ja nie mein Ding.

Später lernte ich die Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck kennen. Das unendlich traurige Klagelied von Orpheus rührt mich auch heute noch zu Tränen. Er hatte es fast geschafft, seine geliebte Eurydike aus dem Reich der Toten zu befreien. Eindringlich hatte man ihn gewarnt, sich auf keinen Fall umzudrehen auf dem Weg zurück ins Leben. Orpheus ging Eurydike voraus, Schritt um Schritt, doch ihr Klagen rührte ihn so tief, dass er sich irgendwann doch umdrehte. „Ach ich habe sie verloren all mein Glück ist nun dahin. Wär oh wär ich nie geboren, weh dass ich auf Erden bin“.

Dreh Dich nicht um...

Viele Menschen erinnern sich sehr gern an ihre Kindheit, ihre Familie, an ihre Jugend, an „bessere Zeiten“. Andere Menschen klagen bei ihren Erinnerungen über Schmerz, Ungerechtigkeit, verlorenen Chancen und erschütternde Erfahrungen. Beide trauern wenn sie sich umblicken, sind gefangen in einem Reich der Vergangenheit, das sie nicht loslässt.

Ich selbst habe mir immer verboten, mich mit Erinnerungen zu beschäftigen. Ich mochte es nie, wenn ich Freunde von früher traf, die mich erinnerten an die Eva mit 7, mit 14, mit 21 – wie schaurig ist es doch, zurückzublicken!

Seit einigen Wochen begegne ich bei meinen Spaziergängen mit meinem Hund fast täglich einem Nachbarn, der sehr viel von früher erzählt. Er schwärmt nicht von „besseren Zeiten“, trauert keinem Vergangenen hinterher - und er scheint auch nicht von seinem eigenen Schicksal beeindruckt oder gar betroffen zu sein. Er erzählt einfach nur tausendundeine Geschichte aus der reinen Lust am Erinnern. Das macht mich nachdenklich.

Sollte ich vielleicht doch mal wagen, mich umzudrehen? Sollte ich das Risiko eingehen und einer Vergangenheit ins Auge blicken die vielleicht schon seit Jahrzehnten darauf wartet, mich zu erwischen?

Aber was soll ich erzählen? Und wer will es hören? Oder soll ich es einfach mir selbst erzählen? Meine vier Kinder wissen tatsächlich sehr wenig über meine Vergangenheit. Auch ich weiß sehr wenig über meinen Vater, der nun leider tot ist, und von dem ich anscheinend diese Abneigung gegen Erinnerungen geerbt habe.

Ich habe mich entschlossen – wohl denen, die gern schreiben! Ich werde es wagen, Geschichten aus meinem Leben lebendig werden zu lassen. Ich habe mir überlegt, dass ich im Geiste mit der kleinen „Marie“ spazieren gehe und diesem kleinen Mädchen Geschichten erzähle. Mögen es winzige Anekdoten sein, möge ich Erlebnisse märchenhaft verschleiern, möge ich fabulieren und gestalten – was soll’s!

Ich möchte mir beim Schreiben vorstellen, wie ich dieses kleine blonde Mädchen an der Hand halte und erzähle, was mir gerade in den Sinn kommt. Diese kleine „Marie“ wird mir helfen, mich zu erinnern. Ich will nach und nach mein Leben neu zusammenbasteln wie ein Puzzle aus bunten Fragmenten. Wer weiß – vielleicht wird es irgendwann ein Buch sein, das ich meinen Kindern hinterlassen kann. Kein Anspruch auf „Wahrheit“ (die gibt es nicht), kein Anspruch auf Objektivität (die gibt es noch weniger) – ich möchte mein Leben neu erfinden als ein Märchen, das 1959 begann.

„Schau Dich nicht um...“ ist weiterhin mein Lebensmotto. Ich mag kein Zurück, für mich geht es nur nach vorn. Doch die Vorstellung, durch erinnernde Geschichten mein Leben neu zu gestalten klingt gut. Marie soll glücklich und gestärkt werden durch meine Erzählungen, denn Marie - das bin ich selbst, das ist mein inneres Kind.

Autor:

Eva Ihnenfeldt aus Dortmund-City

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