Noch 23 Tage bis zur WM: Der verlorene Gral - seit 1983 ist der erste WM-Pokal verschwunden
Die erste Fußball-WM-Trophäe der Geschichte ist die Coupe Jules Rimet. Um den Pokal ranken sich viele Legenden. Seit 1983 ist er verschwunden.
Von Markus Grenz
Nur noch 23 Tage, bis Gastgeber Russland am Donnerstag, 14. Juni, 17 Uhr unserer Zeit, mit dem Spiel gegen Saudi-Arabien die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 eröffnen wird. Drei Tage später, am Sonntag um 17 Uhr, ist die deutsche Mannschaft gegen Mexiko an der Reihe. Für die Fußball-Fans, die es bis dahin nicht mehr erwarten können, haben wir einige interessante Geschichten aus der WM-Historie ausgegraben. Heute ist der Heilige Gral des Weltfußballs an der Reihe.
Der erste WM-Pokal wurde gestohlen - und ist nicht wieder aufgetaucht
Er war nur 35 Zentimeter hoch, die abgebildete griechische Siegesgöttin Nike war nicht einmal aus Gold, sondern nur aus vergoldetem Sterlingsilber, und mit 3,8 Kilogramm war er auch eher ein Leichtgewicht. Dennoch ist der Pokal Jules Rimet, die Coupe Jules Rimet, so etwas wie der Heilige Gral des Weltfußballs. Viele Legenden ranken sich um beide Gefäße, die ihren Trägern ewige Glückseligkeit und Unsterblichkeit versprechen. Wie Jesus’ mythischer Becher beim letzten Abendmahl ist auch der erste WM-Pokal der FIFA verschwunden. Vor rund 35 Jahren, kurz vor dem Weihnachtsfest 1983, wurde er in Rio de Janeiro gestohlen.
Bescheiden aber nicht ohne Anspruch, edel und mit einer gewissen Wertigkeit in der Ausführung: So hatte sich der Auftraggeber und FIFA-Mitbegründer Jules Rimet die Trophäe vorgestellt, die er für die allererste Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 1930 bei dem französischen Bildhauer Abel Lafleur in Auftrag gab. Vorher hatten die bedeutendsten Fußball-Kicks noch im Rahmen der Olympischen Spiele stattgefunden und nur zaghaft entwickelte sich das Selbstbewusstsein der jungen FIFA. Bis der Franzose Rimet zum FIFA-Vorsitzenden gewählt wurde und beharrlich „sein“ Weltturnier verfolgte. Die neue Trophäe, Ausdruck des neuen Geistes, soll Rimet noch im Handgepäck auf die zweiwöchige Schiffsreise zum Austragungsort des ersten eigenen WM-Turniers in Uruguay mitgenommen haben.
Versteckt vor den Faschisten
Drei Mal übergab Rimet die Nike an die Sieger, dann kam der Krieg. Genauer gesagt zwei Mal, 1934 übernahm der faschistische Machthaber Benito Mussolini den Job im römischen Olympiastadion gleich selbst. Auch beim folgenden Turnier in Frankreich siegten die Azzurri und bei Kriegsausbruch lag die Siegesgöttin im Schließfach einer römischen Bank. Um sie vor den Nazis zu schützen, schmuggelte sie der italienische Verbandspräsident Ottorino Barassi in sein Apartment. Und dort überlebte sie, in einem Schuhkarton unter dem Bett, unbeschadet die Wirren des Krieges.
Der erste Diebstahl in England
1950 wurde die schlicht Coupe du Mond (Weltpokal) genannte Trophäe zu Ehren des Weltmeisterschafts-Erfinders in Coupe Jules Rimet umbenannt. Und war 16 Jahre später, im März des WM-Jahres 1966, die Attraktion der Ausstellung „Sport und Briefmarken“ der Firma Stanley Gibbons in London. Doch nicht für lange: Als die Sicherheitskräfte nach dem Lunch in die Westminster Central Hall, einer Methodisten-Kirche, zurückkehrten, war die Vitrine leer. Es folgte Häme aus der ganzen Welt und ein Sturm in der internationalen Medienlandschaft.
Und eine Lösegeldforderung von 15 000 Pfund. Bei der Geldübergabe schnappten sich die Bobbys den Dockarbeiter Edward Betchley, die Göttin blieb verschwunden. Der Erpresser gab den Diebstahl nie zu, generierte sich zum Trittbrettfahrer und es sollte noch einige Tage dauern, bis England einen neuen Nationalhelden feiern konnte. Mischlingshund Pickles grub die Göttin in einem Vorgarten in Upper-Norwood in Süd-London aus. Das brachte ihm das Privileg, die Essens-Reste der Ehrengäste beim WM-Eröffnungsbankett von den Tellern zu lecken. Und seinem Herrchen, dem Themse-Fährmann David Corbett, mit einem Finderlohn von rund 3000 Pfund etwa das Vierfache seines Jahresgehaltes. England-Kapitän Bobby Moore konnte rund vier Monate später nach dem berühmten Wembley-Tor die Nike freudestrahlend gen Himmel strecken.
Das Verschwinden des Grals aus der Fußball-Kathedrale
Noch einmal davongekommen, könnte man sagen. Doch 17 Jahre später kannte der Fußballgott keine Gnade mehr. Mittlerweile war der Gral zur Rua da Alfandega zurückgekehrt, im Gebäude des brasilianischen Fußballverbandes CBF in Rio de Janeiro sollte er seine endgültige Heimstätte bekommen. Die Brasilianer hatten die Trophäe 1970 zum dritten Mal gewonnen und durften den einstigen Wanderpokal nun behalten. Doch die Kathedrale des Zauberfußballs, sie wurde dank Reliquie zu einer wahren Pilgerstätte mit bisweilen 1000 Besuchern täglich, erwies sich als nicht sicher.
Ausgerechnet kurz vor Heiligabend, in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember, drangen Diebe ein in die Schatzkammer, raubten das gute Stück aus der Vitrine und fesselten den Wachmann. Und dann wird die Quellenlage mysteriös. Schon bei der Anzahl der Eindringlinge sind die Chronisten unterschiedlicher Meinung, zwei oder drei sollen es gewesen sein, mindestens zwei von ihnen als Hausmeister im Gebäude tätig. Gefasst worden sein sollen kurz nach dem Diebstahl insgesamt fünf Täter. Die gaben an, der Gral sollte eingeschmolzen worden sein.
Dem widersprach allerdings in einem Interview 1989 der mutmaßliche Hehler und Einschmelzer, der in Rio lebende argentinische Juwelier und Goldhändler Juan Carlos Hernandes. „Der Pokal wurde nie eingeschmolzen. Die ganze Geschichte mit dem eingeschmolzenen Pokal war Teil des Spiels. Der Pokal ist sehr gut versteckt“, sagte der. Wägt man ab, was die zierliche Statuette als Original über den materiellen Wert hinaus an ideellem besaß, klingt dies nicht unplausibel. Schließlich war sie nur aus Sterlingsilber und auch nicht gerade besonders groß.
Ein Mythos entsteht
Aufgetaucht ist sie jedenfalls nie wieder, da halfen auch nicht die ausgelobte satte Belohnung für die Wiederbeschaffung und ein Appell des damaligen CBF-Vorsitzenden Giulite Couthinho an die patriotischen Gefühle der Diebe. 1989 wurde einer der seinerzeit inhaftierten mutmaßlichen Täter, Antonio Carlos Aranha, auch nicht ohne Symbolik, mit sieben Schüssen niedergestreckt. In der christlichen Zahlensymbolik ist die Sieben eine wichtige Zahl, steht für die Einheit von Körper und Geist.
Um zumindest etwas vorzeigen zu können, hat der brasilianische Fußballverband von Experten des Deutschen Goldschmiedehauses im hessischen Hanau mit Hilfe der originalen Gussformen eine Kopie anfertigen lassen. Das ist natürlich nicht das Gleiche. Doch andererseits: Ein heiliger Gral ist ja auch nichts zum Finden, sondern zum Suchen. Und jede Religion braucht schließlich ihre Mythen.
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