Konstruierte 30%-Sanktion zur Disziplinierung und Vermögensschädigung
Ob es verfassungskonform ist Erwerbslose in Deutschland bis tief unter das soziokulturelle Existenzminimum zu sanktionieren ist seit 10 Jahren umstritten. Die Regierungen Schröder und Merkel hatten keine Probleme damit, Bürgern die sozialstaatlich garantierte Grundversorgung vorzuenthalten.
Zu Recht hatte Heiner Geissler bereits 2009 mehrmals mit mahnenden Worten darauf aufmerksam gemacht.
„Anlässlich einer Pressekonferenz zur Buchvorstellung „Als Kunde bezeichnet, als Bettler behandelt“ von Dr. Wolfgang Gern und Dr. Franz Segbers beim Diakonischen Werk Hessen Nassau bezeichnete heute der frühere Sozial- und Gesundheitsminister Heiner Geißler (CDU) das Hartz-IV-Gesetz als grundgesetzwidrig. Die Regelungen des Arbeitslosengeldes II und die Praxis der Jobcenter verstießen gegen den ersten Artikel des Grundgesetzes, wonach die Menschenwürde unantastbar sei. Hartz IV ermögliche kein menschenwürdiges Leben, sagte Geißler heute in Frankfurt am Main.
Die Jobcenter legten die Gesetze grundsätzlich zum Nachteil der Betroffenen aus, sagte Geißler weiter. Wer sich ihren Anordnungen widersetze, dem werde der Regelsatz, für einen volljährigen Haushaltsvorstand 359 Euro im Monat, gekürzt. Die Kürzung einer Leistung unter die Höhe des Existenzminimums sei eine derart schwere Strafe, wie sie in einem Strafprozess kaum verhängt werde. Eine Strafe dürfe nämlich die Existenzgrundlage nicht entziehen.“
Jahrelang verfassungswidrig
Und das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung 1 BvL 10/10 und 2/11 über die existenzsichernden Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) am 18.07.2012 festgeschrieben, dass das Existenzminimum auch auf Asylbewerber anzuwenden sei. Seit 1993 hatten die jeweiligen Regierungen trotz massiver Preissteigerungen keine Anpassungen vorgenommen. Das war verfassungswidrig. Jahrelang.
„2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.“
Aber die Leistungen der Grundsicherung (SGB XII) als auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) kennen keine Unterdeckung durch Sanktionen, sodass hier bereits eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vorliegen dürfte.
Hartz IV- Sanktionen gegen erwerbsfähige Hilfebedürftige sind verfassungswidrig,
zumindest nach Auffassung der 15. Kammer des Sozialgericht Gotha. Die hat als erstes Sozialgericht die Sanktionspraxis des SGB II per Vorlagebeschluss dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt.
Kuriose Sanktion beim Jobcenter Märkischer Kreis
Vor diesem Hintergrund zeigt das folgende Beispiel ein weiteres Mal, die hässliche Fratze des Hartz IV-Gesetzes.
Am 04.12.2015 wurde vor dem Sozialgericht Dortmund Az.: S 27 AS 1608/12, eine 30%ige Sanktion aus dem Jahr 2012 verhandelt. Ausgang der Leistungskürzung war eine leichtfertig unterzeichnete Eingliederungsvereinbarung vom 21.06.2011 in der die Jobcentermitarbeiterin vier Bewerbungsbemühungen pro Monat samt einigen missverständlichen Verklausulierungen und Sonderwünschen eingefordert hatte.
Mit der Begründung, der Kläger habe im Monat Juni 2011 keine vier Bewerbungen nachgewiesen, sanktionierte die übereifrige Jobcentermitarbeiterin den Mann um 30%. Von Januar 2012 bis März 2012 kürzte das Jobcenter Märkischer Kreis seine Existenzsichernden Leistungen um jeweils 109,20 €. Rechtswidrig, wie sich zeigen sollte.
Nicht nur die Jobcenter, sondern offensichtlich auch die Vorsitzende Richterin Moos legte die Gesetze hier zum Nachteil der Betroffenen aus.
Vier Bewerbungen im Monat. Das sind 48 Bewerbungen im Jahr. Der Leistungsberechtigte legte für das Jahr 2011 sogar 82 Bewerbungen vor - und wurde sanktioniert, weil er anstelle der geforderten vier Bewerbungen im Monat Juni, mehrere Bewerbungen in anderen Monaten verschickt hatte.
Auf das ganze Jahr gerechnet hat er zwar 34 Bewerbungen mehr geschrieben als gefordert waren, aber er hatte sich erdreistet, sich nicht gedankenlos dem Willen der Jobcentermitarbeiterin zu unterwerfen, sondern die Bewerbungsbemühungen nach eigenem Gutdünken zu gestalten und zu versenden.
Die Richterin folgte dem Vortrag des Jobcenters teilweise und ritt nun ebenfalls auf dem Monat Juni 2011 herum. Warum nur hatte er nicht gedankenlos gekuscht?
Rechtsanwalt Lars Schulte-Bräucker machte deutlich, dass die Eingliederungsvereinbarung für den Kläger eben nicht verständlich genug gewesen sei. In der EGV tauchten z.B. unzulässige Engführungen in den Forderungen auf, wie „Zeitarbeit“, „Tagespendelverkehr“ und „Beschränkungen auf Qualifikation“ (Verstoß gegen die Berufsfreiheit, Art 12 GG). Immerhin habe der Kläger sein Jahressoll mehr als erfüllt. Er habe auf Bewerbungsbemühungen abgestellt, nicht auf die nachrangig anzusehenden monatlichen Fristen. Durch die Vorerfüllung in den Monaten Januar bis Mai seien nach seinem Verständnis auch die Vorgaben aus der EGV mehr als erfüllt gewesen.
Der Kläger brachte sich unmissverständlich in die Verhandlung ein: „Ich habe meine Jahresforderung erbracht!“, worauf die Beklagtenvertreterin anmerkte: „Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, müssen Sie nachfragen.“
Dieser Schuss sollte nach hinten losgehen.
Als unbeteiligter Prozessbeobachter war klar zu erkennen, dass der Kläger tatsächlich davon ausgegangen war, verstanden zu haben, was von ihm gefordert war, nämlich eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen im Jahr nachzuweisen. Und wer davon ausgeht, etwas verstanden zu haben, der fragt logischerweise nicht weiter nach.
Die Richterin entschied tatsächlich zugunsten des Klägers, auch wenn sie der oben genannten Argumentation nicht so ganz folgen wollte. Die Sanktion wurde aufgehoben und das Jobcenter Märkischer Kreis wurde verurteilt, die rechtwidrig einbehaltenen 327,60 € an den Kläger zu erstatten. Fast vier Jahre hatte der Kläger auf die Erstattung warten müssen.
Zur Begründung der Entscheidung stellte die Richterin darauf ab, dass die Jobcentermitarbeiter (Arbeitsvermittler, Leistungssachbearbeiter und Widerspruchstelle) bereits formale Fehler bei der Sachbearbeitung gemacht hätten. Offensichtlich hatten alle nicht verstanden, wie das Sozialrecht anzuwenden sei.
Aber wie hatte doch Frau F. als Beklagtenvertreterin dem erfolgreichen Kläger ins Gewissen geredet:
„Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, müssen Sie nachfragen.“
Das Urteil wird schnellstmöglicht auf der Seite beispielklagen.de veröffentlicht werden.
Autor:Ulrich Wockelmann aus Iserlohn |
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