Jobcenter Märkischer Kreis stellt Strafanzeige gegen Ex-Kunden wegen Trinkgeld
P. staunte sicher nicht schlecht, als ihm die Anklageschrift (409 Js 391/16) der Staatsanwältin Ackermann vom 20.02.2017 zugestellt wurde.
Der unbescholtene Familienvater wurde darin wegen Betrug und der Falschaussage in einer Eidesstattlichen Versicherung zur Vermögensauskunft vor dem Sozialgericht Dortmund im Rahmen einen Antrags auf Prozesskostenhilfe angeklagt.
P. ist seit 2013 in Deutschland und besitzt einen spanischen Pass. Seine Deutschkennnisse sind noch entwicklungsfähig, aber Juristendeutsch dürfte ihm immer noch spanisch vorkommen. „Rechtswidriger Vermögensvorteil“, „Vorspiegelung falscher Tatsachen“, „einen Irrtum erregen“. Das Vermögen eines anderen beschädigt zu haben, mag er noch verstanden haben. – Aber wessen?
Er las weiter, was ihm vorgeworfen wurde.
Dem Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt:
„In dem Verfahren vor dem Sozialgericht Dortmund, Az.: S 19 AS 5107/13 ER, gab der Angeschuldigte im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung vom 09.01.2014 der Wahrheit zuwider an, dass seine Familie lediglich über seine Einkünfte in Höhe von 120,00 Euro, die Einkünfte seiner Tochter, der Zeugin Q., in Höhe von 450,00 Euro und Kindergeld in Höhe von 558,00 Euro verfüge. Darüber hinaus sei seine Familie mittellos.
Tatsächlich verfügte die Zeugin Q. über erhebliche Trinkgeldeinnahmen von bis zu 40 Euro am Tag, welche die Zeugin in bar an den Angeschuldigten weiterleitete.
Aufgrund der vom Angeschuldigten gemachten Angaben wurde das Jobcenter des Märkischen Kreises in Iserlohn vom Sozialgericht Dortmund mit Beschluss vom 22.01.2014 im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Angeschuldigten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende zu gewähren.
Wären die Trinkgeldeinnahmen der Zeugin Q. dem Sozialgericht bekannt gewesen, wäre das Jobcenter allenfalls zur Leistungserbringung in geringerer Höhe verpflichtet worden.“
Ach so. Jobcenter Märkischer Kreis. Herr Mahler (Anm. Name geändert). Als P. mir die Anklageschrift zu lesen gab, dachte ich noch: „Sind die immer noch so sauer, dass sie die Verfahren in Dortmund verloren haben, dass sie jetzt über das Trinkgeld der Tochter herfallen?“
Später gab P. mir auch die Sitzungsprotokolle aus der Verhandlung vom 12.10.2016 zu lesen. Und tatsächlich fanden sich darin möglicherweise missverständlich belastende Aussagen der Tochter über Trinkgeldzahlungen von vor drei Jahren . . . Aber es fehlten entscheidende Fakten. Die angebliche Höhe des Trinkgeldes war nachgewiesen worden und auch die zeitliche Einordnung fehlte vollständig.
Allerdings lagen dem Jobcenter die Arbeitsverträge und Lohnabrechnungen aus dem Betreuungszeitraum vor und damit die sachliche Überprüfbarkeit der Zeugenaussage.
Am 24.04.2017 wurde unter Vorsitz von Richter Uetermeier in der Sache verhandelt (16 Ds-409 Js 391/16-172117). Für diese Verhandlung wurde eine Übersetzerin hinzugezogen.
In etlichen Nachfragen zum Vorgang konnten entscheidende Sachverhalte geklärt werden. Zunächst wurde herausgestellt, dass die Tochter zunächst 5-6 Monate für 450,00 € in der Küche geholfen hatte, und erst nach Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse ab dem 01.04.2014 in den Servicebereich wechselte. Ab dem Zeitpunkt bekam sie hin und wieder Trinkgeld. Aber sie lebte nicht mehr bei ihren Eltern und bezog keinerlei Leistungen vom Amt. Der neue Arbeitsvertrag war auf ein Jahr befristet und der Lohn war auf 800,00 € für 93 Stunden ausgelegt, das sind 8,60 € pro Stunde.
Die Frage ob die Tochter im Januar (in der Küche) Trinkgeld erhalten hatte, verneinte die Tochter entschieden.
Zu guter Letzt kamen Richter und Staatsanwältin zu einer klaren Entscheidung: zum damaligen Zeitpunkt entsprachen die gemachten Angaben in der Eidesstattlichen Versicherung der Wahrheit. Der Angeschuldigte hatte weder eine falsche EV abgelegt, noch Betrug begangen.
Das Urteil lautete auf „Freispruch aus tatsächlichen Gründen“.
Bereits vor Jahren hatte das Jobcenter Märkischer Kreis gegen den Verfasser eine
Strafanzeige wegen "falscher Verdächtigung in zwei Fällen, in einem Falle tateinheitlich mit übler Nachrede - Vergehen nach §§ 164, 187, 194 Abs. 3 Satz 1, 52, 53 StGB" gestellt, die zu einer Fehlverurteilung führten.
Einige Jahre später konnten in zwei sozialrechtlichen Verfahren die erhobenen Behauptungen gegen das Jobcenter bewiesen werden. Beide Klagen führten zu Nachzahlungen für die Leistungsberechtigten.
klage030
So korrigierte erst nach 9 1/2 Jahren ein Bewilligungsbescheid vom 04.02.2015 fehlerhafte Bescheide aus dem Jahr 2005. Insgesamt belief sich die unterschlagene Geldleistung auf 1551,82 €. Die angeblich „falsche Verdächtigung“ erwies sich als behördlicher Betrugsversuch.
klage009
Autor:Ulrich Wockelmann aus Iserlohn |
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