Hoffnung inmitten der Barbarei - Notizen von einer Reise durch Kurdistan
Die Dortmunder Bundestagsabgeodnete Ulla Jelpke (DIE LINKE) ist von ihrer mehrwöchigen Reise durch die verschiedenen Teile Kurdistans wieder zurück und berichtet nun ausführlich über die aktuelle Situation vor Ort. Gleichzeitig lehnt sie Waffenlieferungen ab und fordert stattdessen sofortige umfangreiche humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge in Rojava und dem Nordirak, die Aufhebung des Hungerembargos gegen Rojava und internationale Anerkennung der kurdischen Selbstverwaltungsregion, die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland und die Streichung der PKK von der EU-Terrorliste.
Des Weiteren soll die Bundesregierung endlich Druck auf die Türkei ausüben, damit die Grenzen für die Jihadisten geschlossen und die logistische Unterstützung durch den türkischen Geheimdienst beendet wird. Abschließend fordert sie ein generelles Verbot von Rüstungsexport.
Über ihre Reise berichtet die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE folgendes:
"Meine Reise durch die kurdischen Gebiete der Türkei, Syriens und des Irak war bereits seit längerem geplant. Ich wollte mir mit eigenen Augen ein Bild von der derzeitigen Situation machen, nachdem es in den letzten Monaten und Jahren in den verschiedenen Teilen Kurdistans zu weitreichenden Entwicklungen gekommen ist.
So führt die türkische Regierung seit fast zwei Jahren Friedensgespräche mit dem inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Abdullah Öcalan während ein Waffenstillstand von beiden Seiten weitgehend eingehalten wird. Im Norden Syrien hat sich trotz permanenter Angriffe radikaler Jihadisten eine aus drei Kantonen bestehende kurdische Selbstverwaltungsregion etabliert, die auch dort lebende christliche und arabische Bevölkerungsgruppen in die basisdemokratischen Rätestrukturen einbindet. Und im Nordirak kündigte der dortige Präsident der kurdischen Autonomieregierung, Masud Barzani im Juni nach der Einnahme der Stadt Kerkuk mit ihren Ölfeldern durch seine Peschmerga ein baldiges Referendum über einen vom Irak unabhängigen kurdischen Nationalstaat an. Wenige Tage vor Beginn meiner Reise sah es also so aus, als würde die seit einem Jahrhundert bestehende kurdische Frage – als würden Unterdrückung, Verleugnung, Zwangsassimilation, Massaker bis hin zum Völkermord gegen das kurdische Volk – bald der Vergangenheit angehören – so unterschiedlich die Lösungsvorschläge in den verschiedenen Teilen Kurdistans auch sein mochten.
Doch schon kurz nach meiner Landung in Diyarbakir, der kurdischen Metropole im Osten der Türkei, kamen die Schreckensmeldungen: Die Gotteskrieger des Islamischen Staates, die im Juni ein Teile des Irak und Syrien umfassendes Kalifat ausgerufen hatten, gingen nun zum Angriff auf kurdische Siedlungsgebiete im Irak über. Betroffen ist insbesondere die Region Sengal, (Sindschar), Hauptheimat von Angehörigen der jesidischen Religionsgemeinschaft. Hunderttausende Menschen waren im Nordirak auf der Flucht, neben kurdischen Jesiden auch christliche Aramäer, schiitische Turkmenenen und sunnitische Araber, die sich den mittelalterlichen Islamvorstellungen des IS widersetzten.
Ein einziges Grauen
Bereits in der an Syrien grenzenden Stadt Mardin besuchte ich gemeinsam mit dem Oberbürgermeister Ahmet Türk eine Gruppe von jesidischen Flüchtlingen aus Sengal, denen die Flucht bis in die Türkei gelungen war. Was mir diese vielfach traumatisierten Menschen geschildert haben, übersteigt jeden Albtraum. Wir haben niemanden getroffen, der noch seine ganze Familie beisammen hat. Eine Frau schilderte mir, wie die Terroristen ihrem Vater zuerst Gliedmaßen abschlugen und ihn dann vor den Augen der Familie köpften. Eine andere berichtete mir, wie selbst eine alte Frau in ein Brautkleid gesteckt und von den IS-Männern vergewaltigt wurde. Die Jihadisten filmten diese Szene auch noch. Anschließend warfen sie die alte Frau ihrer Familie vor die Füße. Als wir dann zur Grenze zwischen Syrien und dem Irak kamen, war es dort bereits voll von Flüchtlingen. Sie kamen in kleinen Wagen, viele Menschen waren zu Fuß unterwegs. Wir sind sofort ausgestiegen und haben mit den Menschen gesprochen und da hat sich uns ein einziges Grauen eröffnet. Mir wurde von Massenhinrichtungen berichtet, jesidische Männer, die sich weigerten, zum Islam zu konvertierten, wurden kurzerhand ermordet. Es gibt Berichte über Hunderte oder sogar Tausende entführte Frauen, die auf regelrechten Sklavenmärkten in Mosul als „Konkubinen“ verkauft werden – also zur Vergewaltigung durch die Jihadisten. Viele Jesiden, aber schiitische Turkmenen sind vor den IS-Banden in die Sengal-Berge geflohen, wo sie fast eine Woche ohne Wasser und Essen bei glühender Hitze ausharren mussten. Hunderte Kinder und alte Leute sind dort gestorben, ehe erste Hilfslieferungen aus der Luft eintragen.
YPG und PKK kämpften Fluchtweg frei
In einigen Medien wird immer noch behauptet, die Peschmerga aus der kurdischen Autonomieregion im Nordirak hätten die Jesiden gerettet, doch das Gegenteil ist leider der Fall. Wie mir viele aus Sengal (Sindschar) geflohene Jesiden berichteten, hatten sich die Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) Anfang August aus dieser Region zurückgezogen und damit die Zivilbevölkerung hilflos gegenüber den nun vorrückenden Jihadisten zurückgelassen. In dieser Situation sind Kämpferinnen und Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG aus Rojava über die Grenze gekommen. Viele Flüchtlinge berichteten mir, dass es Guerillakämpfer der PKK waren, die ihnen gemeinsam mit den YPG der syrischen Kurden zu Hilfe kamen. YPG und PKK kämpften einen Fluchtweg zwischen den Sengal-Bergen und der Grenze frei, durch den Zehntausende Menschen nach Rojava fliehen konnten. Von dort sind zwar viele Flüchtlinge dann weiter in die kurdische Autonomiezone im Nordirak gegangen, doch Zehntausende befinden sich bis heute noch in Rojava– eine Tatsache, die hier kaum bekannt ist. Gerade auch diese Flüchtlinge, von denen jetzt viele in provisorischen Lagern leben, brauchen dringend humanitäre Unterstützung. Denn gegen die Selbstverwaltung in Rojava gibt es ein Embargo sowohl der Türkei als auch der kurdischen Regierung im Nordirak, so dass kaum Hilfsgüter hineingelangen. Nicht nur die Flüchtlinge, auch die Einheimischen leiden darunter. Es fehlt an Medikamenten, an Nahrung etc. Dennoch tut die Autonomiebehörden in Rojava alles, um die Menschen zu unterstützen und es gibt unheimlich viel Solidarität aus der Bevölkerung. Flüchtlinge im Nordirak beklagen sich dagegen, dass ihnen die dortigen Behörden oft ablehnend gegenüberstehen, sie als unerwünscht angesehen werden und nicht ausreichend versorgt werden. Einige campieren in Stadtparks in Erbil, andere in wüstenähnlichem Gelände bei Temperaturen von über 40 Grad ohne Zelte und ohne ausreichend Wasser. Erst ganz langsam läuft jetzt die Hilfe durch den UNHCR und andere Organisationen in der Region an. Hier muss noch ganz viel getan werden.
Optimistisches aus Kurdistan
Es gibt aber auch Optimistisches aus Kurdistan zu berichten. Trotz aller Widrigkeiten sind die Menschen in den drei zu Rojava gehörenden Kantonen Cazire, Kobani und Afrin Rojava dabei, ihre eigene Selbstverwaltung zu gestalten. Die Bevölkerung organisiert sich weitgehend basisdemokratisch in Räten, die in Straßen und Stadtteilen beginnen und Delegierte in Stadträte und von dort in den Volksrat von Westkurdistan entsenden. In den Räten gilt eine 40-prozentige Geschlechterquotierung, alle Führungspositionen sind mit einer quotierten Doppelspitze besetzt – bis hin zur Polizeimiliz, die hier Asayis (Sicherheit) heißt.
Die demokratische Selbstverwaltung in Rojava versteht sich zwar als ein Lösungsansatz für die kurdische Frage nach jahrzehntelanger Unterdrückung der Kurden als größter ethnischer Minderheit in Syrien durch den arabischen Nationalismus. Doch gleichzeitig ist diese demokratische Selbstverwaltung kein kurdisch-nationalistisches oder separatistisches Modell. Es geht vielmehr darum, alle in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen einzubinden. Kurden machen rund ein Drittel der Bevölkerung aus. Daneben leben in Rojava Araber, christliche Minderheiten wie Assyrer und Aramäer, Turkmenen, Tscherkessen und andere. Viele dieser Bevölkerungsgruppen standen anfangs dem Modell der Selbstverwaltung und den Räten skeptisch gegenüber. Doch inzwischen beteiligen sie sich immer stärker daran. Für die Ministerposten der Kantonalverwaltungen gilt das Prinzip, dass jeder Minister und jede Ministerin zwei Stellvertreter aus den anderen ethnisch-religiösen Bevölkerungsgruppen haben muss. Ist also ein Kurde Minister, so hat er zum Beispiel einen aramäischen und einen arabischen Stellvertreter. Neben Kurdisch sind arabisch und aramäisch gleichberechtigte Amtssprachen. Entsprechend verstehen sich die Volksverteidigungseinheiten YPG als multiethnische und multireligiöse Verteidigungseinheiten der Völker in Rojava. Neben Kurden beteiligen sich auch viele Araber an den YPG und Milizen der christlichen Assyrer und Aramäer haben sich ebenfalls angeschlossen. Rund 40 Prozent der YPG-Mitglieder sind übrigens Frauen, die auch ihre eigenen Frauenverteidigungseinheiten YPJ besitzen. Auch innerhalb der Asyis (Sicherheit) stellen Frauen fast die Hälfte der Mitglieder. Seit fast drei Jahren kämpfen YPG und YPJ an der Front in Rojava, unter anderem gegen den IS. Die Einheiten leisten Enormes und man hört überall von den Menschen in Rojava: Wenn wir diese Verteidigungseinheiten nicht hätten, würde es uns genauso wie den Leuten in Sengal gehen und wir würden hier heute gar nicht mehr leben. Es gibt trotz des Krieges ganz klare Menschenrechtskriterien für den Umgang mit Gefangenen. Wir haben die Gefängnisse gesehen. Dort sind IS-Terroristen eingesperrt, aber die werden nicht gefoltert oder geschlagen. Menschenrechtskonventionen, Genfer Flüchtlingskonventionen, Völkerrecht, die Behandlung von Kriegsgefangenen - auf all das wird geachtet. Auch die eigene Polizei wird nach diesen Maßstäben geschult, es darf keinen Rassismus, keine körperlichen Übergriffe auf Verhaftete geben.
Rojava: Insel der Hoffnung im Ozean der Barbarei
Die Wirtschaft in Rojava leidet stark unter dem Embargo durch die Türkei aber auch die benachbarte kurdische Regionalregierung im Irak. Es fehlt an Medikamenten, an Maschinen zur Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, an Milchpulver für Kinder und vielem mehr. Aber es wurde damit begonnen, Öl zum eigenen Verbrauch aus den Ölquellen in Rojava zu fördern. Eine Raffinerie wurde aufgebaut, um Benzin zu erzeugen. Auch Generatoren mussten selber gebaut werden, da sie aufgrund des Embargos nicht über die Grenze gelassen werden. Mit diesen Generatoren können sie mittlerweile die gesamte Bevölkerung drei Stunden am Tag mit Energie versorgen. Um die Versorgung der Bevölkerung mit billigem Brot sicherzustellen, gibt es in vielen Stadtteilen Volksbäckereien. Viele Betriebe werden in Form von Kooperativen organisiert, da sie der Allgemeinheit dienen sollen und nicht der Bereicherung einzelner. Für alle Bereiche des Lebens gibt es Komitees, für Bildung, für Frauen, Gesundheit, Jugendliche. Ich habe erlebt, wie motiviert die Menschen dort sind, weil sie endlich nach Jahrzehnten der Unterdrückung die Dinge selbst in die Hand nehmen können. Rojava ist damit eine Insel der Hoffnung in diesem Ozean der Barbarei."
Fotos auf Ulla Jelpkes Facebookseite: is.gd/Lf6m54
Autor:Carsten Klink aus Dortmund-Ost |
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