Lehrstunde in Solidarität

Vor dem Unterricht muss das Einvernehmen hergestellt werden: Religionslehrer Aziz Alsandemir, Ozan, Caner, Rojda, Rojda, Aliser und Ahmet teilen die mitgebrachten Gaben gerecht auf. | Foto: Schmitz
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Wenn die anderen Kinder ins Wochenende gehen, hängen Ozan, Rojda, Canser und einige andere noch eine Stunde dran. Alevitischer Religionsunterricht steht auf dem Stundenplan.
Freitagnachmittag in der Albrecht-Brinkmann-Grundschule in der Nordstadt. Ozan, Canser, die beiden Rojdas, Aliser und Ahmet treffen sich in einem Klassenraum. Sie haben jetzt alevitischen Religionsunterricht. Ihr Lehrer, Aziz Aslandemir, hat vorher schon an einigen anderen Schulen unterrichtet. Immer freitags ist er an der Nordmarkt-Schule und an der Graf-Konrad Grundschule. Jetzt ist er hier. „Eigentlich sind hier zehn Kinder im Unterricht“ erklärt er. Doch einige sind heute krank.
Bevor der eigentliche Unterricht beginnen kann, muss noch etwas getan werden. Einige Schüler haben etwas zu essen mitgebracht, das „Lokma“, in diesem Fall Süßigkeiten. Sie werden gerecht verteilt. „Sind alle miteinander einverstanden?“ fragt Canser in die Runde. Dreimal wird gefragt – bejahen alle, darf gegessen werden, kann der Unterricht beginnen. Das sogenannte „Einvernehmen“ ist ganz wichtig im Alevitentum. Ebenso wie beim Gottesdienst, dem Cem, darf beim Religionsunterricht kein Streit zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern herrschen – gibt es Konflikte, müssen die erst geklärt werden. Lässt sich der Streit nicht klären, werden die Streitenden ausgesperrt, auch beim Cem läuft das so.
Bei den Fragen des Lehrers gehen alle Finger hoch. „Warum ist das Teilen so wichtig?“ Rojda erklärt: „Die Propheten haben das auch so getan“, und Aliser ergänzt: „Wir haben ja keine Waage dabei, wir teilen nach Augenmaß, deshalb ist es wichtig, dass alle zufrieden sind.“ Einvernehmen, Rücksichtnahme, Solidarität – Begriffe, die die Kinder am praktischen Beispiel lernen, zum Beispiel an der Legende von der Stadt des Einvernehmens, die Ozan erzählt. Dort halfen sich die Menschen gegenseitig, gab einer dem anderen, was er zum Beispiel an Nahrung brauchte – bis einer die Regeln brach und sich ungefragt mehr Äpfel aus einem fremden Garten pflückte, als er essen konnte.
Weiter geht der Unterricht, die Kinder beantworten Fragen zum Gottesdienst. Dort gibt es mehrere symbolische Handlungen: „Das Böse, das draußen passiert, soll raus aus dem Raum, deshalb wird es symbolisch weggefegt“, erklärt einer. Auch Kerzen spielen eine große Rolle, „sie sollen das Böse, das Dunkle vertreiben. Kerzen stehen für den Frieden.“ Auch Musik, der Gesang der Gemeinde und der „Semah“, der rituelle Tanz, spielen eine große Rolle beim Cem. Das wissen die Kinder schon aus den Kindercems, die in Dortmund und in Bergkamen schon stattgefunden haben. Doch es geht nicht nur darum, wie die Religion praktiziert wird, denn der Besuch des Gottesdienstes ist Aleviten wie viele andere Sachen freigestellt.
„Alle Religionen und alle Menschen sind gleichwertig“, erklärt der Lehrer. „In jedem Menschen ist etwas Göttliches.“ Ein Prinzip, dass die Kinder in der vergangenen Stunde behandelt haben, am Beispiel von Anne Frank. „Sie ist ermordet worden, nur weil sie eine Jüdin war“, erklären die Kinder. Und damit sind die Kinder plötzlich mitten drin im aktuellen Geschehen:
Denn am morgigen Samstag ist eine große Demonstration angekündigt: Der türkische Staatspräsident soll einen Preis bekommen, für Toleranz. Davon haben sie gehört, und sie wissen auch, dass ein Prozess, der sich mit dem Tod von vielen Aleviten bei einem Pogrom in einem Hotel in Sivas 1993 beschäftigte, vor kurzem ohne ein Urteil eingestellt wurde – die Tat sei für verjährt erklärt worden, erzählt Aziz Aslandemir. Viele Aleviten wollen auch deshalb am Samstag demonstrieren.
Doch eigentlich ist den Kindern die Geschichte von Anne Frank noch viel näher: Mehmet Kubasik, der in Dortmund von der rechtsextremen Terrorzelle NSU ermordet wurde, war einer aus ihrer Gemeinde.
In NRW gibt es an 19 Schulen alevitischen Religionsunterricht. Der Unterricht läuft in den Bundesländern Berlin, Niedersachsen, NRW, Baden Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Bayern und dem Saarland. Er ist versetzungswirksam, wird benotet und findet in deutscher Sprache statt.
Für Aleviten gelten die „fünf Säulen des Islam“, also Fasten, Pilgern, Beten, Glaubensbekenntnis und Spenden für Arme nicht. Sie kennen keine Geschlechtertrennung, Frauen werden als gleichberechtigt angesehen und verschleiern sich nicht. Auch der Gottesdienst wird gemeinsam gefeiert.
Anders als Islam oder Christentum ist die alevitische Religion keine monotheistische Religion, sondern eine pantheistische. Sie kennt keine Gottesfigur, sondern sieht das Göttliche im Menschen. „Gottesdienst ist Dienst am Menschen“, erklärt Aziz Aslandemir. Der muss nicht im Cemstattfinden, sondern kann auch zu Hause praktiziert werden. Auch ein Priester ist nicht zwangsläufig nötig, die meisten Entscheidungen werden von der gesamten Gemeinde getragen.

Vor dem Unterricht muss das Einvernehmen hergestellt werden: Religionslehrer Aziz Alsandemir, Ozan, Caner, Rojda, Rojda, Aliser und Ahmet teilen die mitgebrachten Gaben gerecht auf. | Foto: Schmitz
Im vergangenen Mai besuchte der Landesminister für Arbeit, Soziales und Integration, Guntram Schneider den Religionsunterricht in der Libellenschule | Foto: Schmitz
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Lokalkompass Dortmund-City aus Dortmund-City

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