Erinnerungsaktion für den Bottrop Rathaussturm
Erinnerungsaktion von Sahin Aydin für 72 gefallene Ruhrpottler beim Bottroper Rathaussturm 19.02.1919
Eine besondere Erinnerungs-Aktion hat mich bewegt nach Bottrop zu kommen, um den Lokalhistoriker Sahin Aydin ein wenig unter die Arme zu greifen.
Sahin Aydin wurde in der Türkei geboren und kam 1973 nach Deutschland. Seit 20 Jahren lebt er in Bottrop, setzte sich auch eine Zeitlang politisch für soziale Projekte in der Stadt ein, doch sein Hauptanliegen ist eine korrekte Darstellung der Geschichte seiner Wahlheimat, die ihm in der Türkei verwehrt bleibt als Kurde. Seit Jahren forscht er über den Bottroper Rathaussturm vom 19.02.1919. Denn dabei starben mehr als die bisher angenommen, die jedoch bis jetzt auch nicht gewürdigt wurden. In seinen bisherigen Forschungen stellt er fest, dass die Geschichte im Laufe der Zeit und vor allem durch den nationalsozialistischen Einfluss und deren mögliche Verfälschung in der Historie aller Städte in Deutschland neu aufgearbeitet werden sollte, wenn auch der Aufwand hoch ist. Es gibt zu vielen Dingen merkwürdigerweise gesperrte Akten bis Heute. Warum weiß keiner so genau. Sie werden aber unter Verschluss gehalten.
Für die weitere Erforschung dieser und anderer historischen und undurchsichtigen Ereignisse braucht es oft Kopien oder in digitaler Form weiterführende Informationen zum Zusammentragen eines korrekt angegebenen historischen Materials. So sind wichtigen Archivunterlagen im Landesarchiv und auch Bundesarchiv leider sehr teuer, wenn ein Lokalhistoriker Kopien und digitale Informationen/Fotos für die weitere Forschung mit nach Hause nehmen möchte viel Geld.
Interview-Video I Erinnerung an 72 Gefallene beim Bottroper Rathaussturm 19.02.1919 von und mit Sahin Aydin – Film/Moderation: André Brune
Stolperstein für den ersten Oberbürgermeister nach dem II. Weltkrieg und Schlichter Ernst Ender
Sahin Aydin kann das nicht alles stemmen, denn er hat aus eigener Tasche auch schon mehrere Stolpersteine-Widmungen bezahlt. Er hat auch den neuesten verlegten Stolperstein am 9.11.2021 für Ernst Ender angeregt und bezahlt. Ernst Ender war einer der Verhandler bzw. Schlichter beim Rathaussturm. Nach der Machtergreifung der Nazis wurde er am 5.2.1938 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Am 18.02.1941 wurde er wieder entlassen. Nach dem Krieg wurde er von den Alliierten am 1.7.1946 als Oberbürgermeister von Bottrop eingesetzt. Das Amt konnte er aber aus gesundheitlichen Gründen nur bis zum 13.10.1946 ausführen. Für Sahin Aydin ist es wichtig, dass die Geschichte richtig dargestellt wird. So wollte ich als gebürtiger Bottroper dabei sein, wie er mit 72 Luftballons an die 72 beim Rathaussturm am 19.2.1919 umgekommenen Menschen zu erinnern.
Sahin Aydin forschte in Presse- und Stadtarchiven, auch in den Nachbarstädten, und fand heraus, dass es mehr Todesopfer gab beim Rathaussturms. Zudem wurde in den 12 Jahren der Herrschaft der Nazis städtische Geschichten von örtlichen Historikern in ihrem politischen Sinne, auch für Propagandazwecke verändert. So wurde unter anderem für die Geschichte eine blutrünstige Legende gestrickt, wie das angebliche Zerreissen eines Kindes, das einfache Bergarbeiter bei dem Streik für mehr Lohn nach dem ersten Weltkrieg vollzogen hätten.
Chaotische politische Verhältnisse in der jungen Republik Deutschland nach dem Weltkrieg
Im Bottroper Rathaus war früher ein Polizeirevier und ein Gefängnis integriert. In diese wurden 22 Bergarbeiter der Zeche Prosper I und II am 18.02.1919 eingesperrt. Die meisten hatten einen Migrationshintergrund, denn sie waren polnische Einwanderer. Damals sagte man zu Bottrop auch „Klein-Warschau“, denn in Großteil der Bottroper Bevölkerung (1913 waren 51% Migranten) hatten damals polnische Wurzeln. Damals herrschte nach dem ersten Weltkrieg und der Abdankung des Kaisers Wilhelm II in den noch jungen Republikjahren das Chaos. Revolutionäre Umtriebe durch kommunistische Gesinnungsgenossen, wie auch die ersten Freikorps, die als Vorgänger der SA der Nationalsozialisten bezeichnet werden können, und auch Monarchistische Anhänger. Auch die in der Weimarer Republik regierende SPD nutzte diese Freikorps, um streikende Arbeiter zur Aufgabe zu zwingen. Die Wirtschaft lag am Boden. Jeder Streik, auch von anarchistischen und kommunistischen Seiten angefacht, um die Regierung zu destabilisieren, um in ihrem eigenen ideologischen Sinne, z.B. eine Räterepublik zu errichten. Den meisten Arbeiterfamilien ist die politische Gesinnung damals egal gewesen. Für sie war es wichtiger die Familie ernähren zu können. Der Umbruch in der jungen deutschen Republik sollten auch mehr Rechte und mehr Lohn für Arbeiter bringen. Auch die Frauen, die in den Kriegszeiten Männerjobs übernommen haben, die an die Front gekommen sind, wollten mehr Rechte und Lohn einfordern.
So wurden in den Anfängen der Republik Deutschland sogenannte Arbeiter- und Soldatenräte von den heimgekehrten Soldaten ohne Perspektive im eigenen Land gegründet, um eine bessere Nahrungsversorgung und mehr demokratische Rechte für die bisher unter dem Kaiser arm gebliebenen Arbeiterfamilien zu bekommen. Auch Soldaten, heimgekehrt ohne Perspektive im eigenen Land, weil sie den Krieg verloren hatten, gründeten Räte. Der langanhaltende Krieg verstärkte die Armut nur. Um es deutlicher zu machen, wie groß die Armut war ist: Ende Januar 1919 bekam jeder Bewohner von Bottrop 300 Gramm Brot und Tag und Möhren statt Kartoffeln zugeteilt. Die Lebensmittelversorgung ist nach dem Krieg seit dem November 1918 komplett zusammengebrochen. 150 Gramm Fett waren nur pro Woche und Bewohner zugeteilt. Die schlechte Versorgungslage basiert auch zum Großteil auf die Importbeschränkungen der Seeblockade der Engländer im Krieg.
Der undurchsichtige Rathaussturm
Bergarbeiter der Zeche Prosper I und II fingen Ende Januar an für mehr Lohn und Rechte zu streiken. Seit der Abdankung des Kaisers sahen sie das Streikrecht als Grundrecht an und nutzen dies auch. Gegründete Arbeiter- und Soldatenräte in Sterkrade und Mülheim haben gegründete Volkswehren, sogenannte Sicherheitswehren um Hilfe gebeten, um die 22 gefangenengenommenen Rädelsführer zu befreien, darunter waren die zum Schlichten anwesenden bekannten Persönlichkeiten anerkannter Parteien Alois Fulneczek (KAPD*), Ernst Ender (USPD**), August Banko (USDP), Ludwig Sittek (USPD) und Wilhelm Piefke (USPD). Der ihrer Meinung nach illegitim handelnden Bottroper Arbeiterrat sollte abgesetzt werden. Angehörige forderten an diesem Tag die Freilassung. Die Rathauswache fühlte sich bedroht und schoss in die Menge. Die ersten Toten pflasterten den Rathausplatz. Am Nachmittag des 19.02.1919 unterstützten Sicherheitswehren aus Oberhausen, Mühlheim und Düsseldorf die Rathauswache. Die Freilassung der Bergleute wurde wieder abgelehnt, weil der Freikorps „Lichtschlag“ Hilfe in dieser Angelegenheit angeboten hatte.
Widersprüchliche ungereimte chaotische Nachrichten kamen nach der Kapitulation der Rathausverteidiger zu Stande. Dreizehn Gefangene wurden schon bei der Gefangenschaft erschlagen. In der Essener Allgemeinen Zeitung wurde über die 25 Tage andauernde Verhandlung gegen die angeklagten Rathausstürmer berichtet: 21 Angeklagte, Zeugen, Staatsanwalt, Richter und Rechtsanwälte sind zu Wort gekommen. Elf der Rathausverteidiger fanden bei den Kämpfen den Tod, davon fünf, die erschlagen wurden. So wurde damals der Tod und die Anzahl der Rathausverteidiger instrumentalisiert, um streikende Bergarbeiter als blutrünstige Verbrecher darzustellen, die sie mit Sicherheit nicht waren. Doch insgesamt starben mehr, fand Sahin Aydin raus.
Schlichter und Verhandlungsführer Alois Fulneczek wurde umgebracht
Alois Fulneczek, war einer der Sprecher und Verhandlungsführer der Bergleute und gleichzeitig der größten Migranntengruppe, der katholischen Polen in Bottrop. Fünf der verurteilten polnischen Streikleiter von Prosper waren Jankowski, Zurek, Pietrowski, Bujotzek, der schwerverwundete Skupin und getötete Skowroneck. Als die Streikposten von der Volkswehr/Freikorps angegriffen wurde, starb dabei ein Volkswehrangehöriger.
Sie waren ein gefundener Sündenbock für die undurchsichtige Situation des Rathaussturms. Alois Fulneczek wurde verhaftet und am 23.2.1919 durch den Freikorps Lichtschlag, so ein militärischer Bericht, auf der Flucht erschossen (aus Rudolf Isforts Bericht: Aus den Tiefen der Hölle …Quellenangabe unten). Jedoch brachte man ihn wohl, so laut Augenzeugenberichten direkt im Amtsgerichtsgefängnis um.
Persönliches Gedenken an die Gefallenen des Rathaussturms gehört in den Ruhrpottologen-Blog
Auch diese Geschichte des Ruhrpotts gehört mit immer neueren Erkenntnissen durch Sahin Aydin und Dr. Peter Berens zu den Geschichten im Ruhrpottologen-Blog. Jeder kann den Rathausverteidigern, aber auch den Bergleuten, die umgekommen sind, gedenken. Die Rathausverteidiger sind im Eingangsbereich des Westfriedhofs von Bottrop gegenüber des Kriegerdenkmals begraben worden. In meinen Augen sind damals in diesen undurchsichtigen Zeiten zu viele Menschen auf beiden Seiten umgekommen. Ob durch Hunger und schlechten Arbeitsbedürfnissen der Bergleute kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, sowie auch bei den undurchsichtigen ersten Maßnahmen der regierenden Parteien in Stadt, Land und Staat. Ich persönlich Gedenke allen Gefallenen beim Rathaussturm, egal welcher Gesinnung, denn jeder Tote ist einer zu viel gewesen. Der Erste Weltkrieg hat schon zu viele Menschenleben gekostet und Frauen und Eltern Mann und Kind an den Fronten gelassen. Ehren wir also mit Sahin Aydin die bisher gefundenen 72 Toten, egal von welcher Seite, die leider nicht alle mit Namen gefunden werden konnten, jedoch von der Anzahl her durch unterschiedliche Berichten aus Zeitung und Archivmaterial zusammengetragen wurden!
*KAPD: Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), vertrat während der Weimarer Republik, die linke, antiparlamentaristische und rätekommunistische Positionen. (Quelle: Wikipedia: Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands – Wikipedia)
**USPD: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) war eine sozialistische Partei im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Von Sozialdemokraten in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges gegründet, war sie eine Abspaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) (die sich dann MSPD nannte). Die USPD bestand nach Parteieintritten von SPD-Mitgliedern, Gründungen von parteiinternen Organisationen und deren Abspaltung sowie zahlreichen Aus- bzw. Übertritten in andere Parteien bis 1931. (Quelle, wenn auch der Bericht umstritten ist, jedoch die Partei richtig beschrieben hat im ersten Absatz: Wikipedia: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands – Wikipedia)
Weiterführende Literatur oder Internetseiten:
Lokalhistoriker Sahin Aydin: www.sahinaydin.de
Von Rudolf Isfort: Aus den Tiefen der Hölle – oder der Bottroper Rathaussturm 1919 – Geschichte und Gegenwart (r-isfort.de)
Autor:Andre Brune aus Bochum |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.